Zeremonielle Bewusstseinserweiterung

In memoriam Professor Thomas Szasz

“Warum wollen wir Drogen? Im Prinzip aus genau denselben Gründen wie alle anderen Dinge. Zum Beispiel, um unsere Schmerzen zu lindern, unsere Kranken zu heilen, unsere Leistung zu steigern, unsere Stimmung zu ändern, unsere Schlaflosigkeit zu besiegen oder einfach nur, um uns wohler zu fühlen – man könnte auch sagen, wir sehnen uns nach Drogen aus genau demselben Grunde, aus dem wir uns nach einem Fahrrad, einem Auto, einem Traktor, einer Leiter, einer Kettensäge, Skiern oder Drachenfliegen sehnen: um unser Leben erfüllter und angenehmer zu gestalten.”

Jahr für Jahr verletzen sich oder sterben Zehntausende von Menschen an Unfällen, die sie mit den oben genannten Gegenständen erlitten. Warum spricht man dann nicht von Skiabhängigkeit oder eben vom Kettensägen-Problem? Deshalb, weil wir von den Menschen, die diese Gegenstände benutzen zu Recht annehmen, dass sie sich alle erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten zur Nutzung des entsprechenden Gegenstandes aneignen und bemüht sind, zu vermeiden, sich oder anderen mit dem betreffenden Gegenstand Schaden zuzufügen. Wenn dann doch ein Unglück passiert, gehen wir davon aus, dass es sich bestimmt um einen zufälligen Unfall handelt, und geben unser Bestes, um die Heilung ihrer Verletzungen zu beschleunigen. Wenn jemand jedoch aus Nachlässigkeit oder vorsätzlich einem anderen Menschen Schaden zufügt, verhängen wir zivil- oder strafrechtliche Sanktionen. Kurzum: Wir versuchen, angemessene Lösungen für jede Situation zu finden, die wir mit den potentiell gefährlichen Utensilien unserer Umwelt generieren können.

Wer würde meinen, dass dieser Text, der sich durchaus als Motto für ein Legalisierungspamphlet eignen würde, nicht aus der Feder eines intellektuellen Blumenkindes, sondern von einem Psychiater in seinen Fünfzigern stammt? Und außerdem von einem Menschen aus unseren Breiten. Wir zitierten soeben die Worte eines weltbekannten Wissenschaftlers ungarischer Herkunft, nur ist der traurige Anlass hierfür die Tatsache, dass er vor Kurzem von uns ging, im 92. Lebensjahr. Thomas Stephen Szasz, Geburtsname Szász Tamás István, emigrierte als 18-jähriger in die Vereinigten Staaten, wo er das Medizinstudium absolvierte, als Psychoanalytiker praktizierte, und ab Mitte der 50er Jahre an verschiedenen Universitäten als Professor für Psychiatrie tätig war und berühmt wurde. Ohne uns zu sehr in die Details seines Lebenslaufs vertiefen zu wollen, können wir festhalten, dass er sich mit seinen Ansichten schon bald von den Inhalten des klassischen Medizinstudiums entfernte. In den Fokus seines Interesses gerieten die meist negativen gesellschaftlichen Auswirkungen des Aufeinandertreffens der Medizinwissenschaften und der jeweiligen Machthaber. Dr. Szasz fand schnell seine persönliche Argumentation, die durch sein ganzes Lebenswerk hinweg konsequent zu beobachten ist und in zwei Hauptthesen gipfelt: erstens die übertriebene Macht der Psychiatrie – von den regelmäßig “neu erfundenen” Krankheiten bis hin zur Zwangsbehandlung – und zweitens die Infragestellung des Rauschgiftverbotes. Gemeinsamer Anschlusspunkt in seinen Kritiken ist die Vorstellung, dass sowohl die als geistig krank erklärten Patienten als auch die Suchtmittel-Konsumenten von der modernen Gesellschaft als Sündenbock angesehen würden, auf die eine subtilere, moderne Form der mittelalterlichen Hexenverfolgung angewandt würde. Wie interessant die Anti-Psychiatrie-Theorien von Professor Szasz auch sein mögen, hier möchten wir uns auf seine Abhandlungen über Drogen beschränken.

“Heutzutage zeigt sich der Sprachgebrauch des Abstempelns zum Sündenbock nirgends so eindeutig wie in unseren Rede- und Schriftformeln in Situationen, wenn wir über den Drogenkonsum oder über das Sich-Fernhalten vom Drogenkonsum sprechen oder schreiben.”

Aus der Meinungsforschung ist uns bereits bekannt, dass ein Großteil der Bevölkerung Drogenkonsumenten gegenüber starke Vorurteile hegt – ähnlich wie bei Roma, Homosexuellen oder Juden – und zum negativen Abstempeln geneigt ist, d. h. solche Bevölkerungsgruppen werden häufig in die Rolle des Sündenbocks gedrängt. In der Praxis bedeutet dies, dass jemand, der einmal mit dem Attribut “Drogi” versehen wurde, anschließend erklären kann, soviel er will, geglaubt wird ihm nicht einmal das, was er fragt… Dagegen wird man ihn mit den abstrusesten Theorien gerne jederzeit verdächtigen. Weniger bekannt sind die tiefer liegenden, vor Jahrtausenden entstandenen Zusammenhänge zwischen Drogen und Sünde. Vermutlich ahnen die meisten nicht, dass das griechische Wort “pharmakos” ursprünglich nicht “Medizin”, sondern “Sündenbock” bedeutete. In der Einleitung zu seinem 1974 erschienenen Buch mit dem Titel “Szertartásos kémia” [“Zeremonielle Chemie”] erinnert Szasz daran, dass für die Menschen der Antike das Opfern eines Sündenbocks als wirksamster “therapeutischer” Eingriff bekannt war, mit dem Hoffnungen auf die Genesung einer ganzen Gemeinschaft bzw. auf die Befreiung von einer Plage verbunden waren. Im antiken Griechenland wurden eigens hierzu meist geistig und/oder körperlich behinderte Menschen “bereitgehalten”, die von öffentlichen Gaben unterhalten wurden und ein von der Gesellschaft abgeschirmtes Dasein fristeten, um bei Bedarf für die Gemeinschaft geopfert werden zu können. Sie trugen – jedenfalls solange sie lebten – den Namen pharmakos. Daraus lässt sich ableiten, dass unser noch heute gebräuchliches Wort “Pharmakologie” nicht etwa von “Medizin” oder “Droge” abstammt, sondern sich aus dem griechischen Wort für “Sündenbock” herleitet. Szasz argumentiert weiter, dass der ursprüngliche Bedeutungskern mit der Abschaffung des Menschenopfers aus unserem Sprachgebrauch verschwunden sei. Die Grundeinstellung der Gesellschaften jedoch, auf jeden Fall einen Sündenbock zu brauchen, sei erhalten geblieben und könne nach der Hexenverfolgung im Mittelalter heutzutage am Besten in der Kriminalisierung der Konsumenten von illegalen Drogen beobachtet werden.

An diesem Punkt wäre es ein Leichtes, auf der Stelle zum vehementen Legalisierungskampf von Szasz überzuwechseln, aber die Gedankenführung des Professors ist viel spannender. Nach der Metapher des Sündenbocks weist er darauf hin, dass die Motivation der Konsumenten von illegalen Drogen meist ebenso in der Entspannung und Selbstheilung liege wie bei den meisten Menschen, die legalen Alkohol, Tabak oder Kaffee bzw. psychoaktive Medikamente konsumierten. Der Unterschied läge lediglich darin, dass man sie nicht dafür verfolge.

“Wenn man den Konsum von Drogen aufgrund ihrer chemischen Zusammensetzung zu verstehen versucht, ähnelt das dem Versuch, die Wirkung des Weihwassers mit seinen speziellen chemischen Komponenten zu erklären”, behauptet der Professor.

Szasz ist der Meinung, dass es ein großer Irrtum sei, bei der Untersuchung der Wirkungsmechanismen von Drogen den Zweck des Konsums außer Acht zu lassen und sich ausschließlich auf die chemischen Dimensionen zu beschränken. Obwohl bei Diskussionen über den Drogenkonsum immer wieder die zugrundeliegenden Motivationen angesprochen werden, hält der Professor dies nicht für ausreichend. Seiner Meinung nach sind zahlreiche Gewohnheiten im Bereich des Drogenkonsums durchaus als Zeremonien zu bezeichnen – man braucht nur an die Rituale der Naturvölker um ihre Peyotl, Zauberpilze und Ayahuasca zu denken, oder gar an die Séancen der modernen Psychonauten. Man kann aber auch – wenn man im europäischen, jüdisch-christlichen Kulturkreis bleiben möchte, auf die zeremonielle Bedeutung des Alkohols, z. B. als Messwein, verweisen. Der Psychiater empfiehlt daher, als ersten Schritt eine Trennlinie zwischen der Untersuchung der Drogen an sich und der Untersuchung ihres Konsums (oder eben gerade der Ablehnung ihres Konsums) zu ziehen. Da zu Letzterem persönliche, kulturelle und sakrale Faktoren führen, verweist Szasz den Drogenkonsum (anstatt auf seine medizinischen und technischen Dimensionen einzugehen) in den Bereich der “Zeremoniellen Chemie” (Titel seines bekannt gewordenen Buches). Einer der grundlegenden “ketzerischen” Gedanken in seiner Abhandlung ist seiner eigenen Aussage nach die Feststellung, dass der echte Unterschied zwischen dem Heroin und dem Alkohol oder zwischen Marihuana und Tabak nicht in der chemischen Zusammensetzung, sondern in denen mit dem Mittel verbundenen zeremoniellen Handlungen gesucht werden müsse. Dies bedeutet, dass die meisten Leute sich nicht deshalb für Marihuana entscheiden, weil sie das Marihuana für ungefährlicher und weniger schädlich halten, sondern viel wichtiger sei die Frage der persönlichen Präferenz, d.h. welches Mittel der betreffenden Person “heiliger” oder “unheiliger” erscheint. Heutzutage kann jeder – auch schon nach kurzer Suche – Gemeinschaften oder Individuen in seiner Nähe finden, die Marihuana als heiliges Mittel verehren und sich von dieser ihrer Ansicht auch durch gesetzliches Verbot nicht abbringen lassen.

In einem vor einigen Jahren mit ihm aufgenommenen Interview erklärte Szasz, dass sich Verbote in der Geschichte typischerweise eher auf Speisen bezogen (damit verwies er auf das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch in jüdischen und muslimischen Kreisen). Szasz ist der Meinung, dass es auch im 19. Jahrhundert noch absolut absurd gewesen wäre, der amerikanischen Gesellschaft vorzuschreiben, mit welchem psychoaktiven Mittel sie leben darf und mit welchem nicht, jedoch ist im 20. Jahrhundert genau das passiert. Was bis dahin als Wundermittel galt – Cannabis, Kokain und Opium – landete auf einen Schlag auf der Schwarzen Liste. Und genauso, wie mit dem Verzicht auf bestimmte Speisen das Bekenntnis zu gewissen göttlichen Gesetzen demonstriert werden kann, wurde der Verzicht auf verbotene Drogen zum Symbol des unbedingten Gehorsams gegenüber den staatlichen Gesetzen. Heutzutage gilt die Entscheidung für illegale Drogen in der Meinung der Allgemeinheit meist als Entscheidung der Schwachen – derjenigen, die die Realität nicht ertragen können. Wer jedoch in der Lage ist, diese Konfrontation zu ertragen, der braucht keinerlei andere bewusstseinserweiternde Mittel als den Alkohol – suggeriert die Meinung der breiten Masse. Laut Professor Szasz ist der Westen darum bemüht, diese Auffassung der ganzen Welt aufzudrängen.

 

“Die Christen legten Feuer in Moscheen und Heiligtümern, um das Wort Gottes in die Welt zu tragen, die Anti-Drogen-Kämpfer setzen Hanfplantagen in Brand, um zum Alkoholkonsum umzuerziehen.”

Der Westen hat sein Heil also im Alkohol gefunden. Szasz ist der Meinung, dass die Verfolgung von Rauschmitteln bei paralleler Unterstützung des Alkoholkonsums nichts anderes als ein “pseudo-gesundheitsfördernder” Feldzug sei, der mit dem Umerziehen der unterworfenen Völker zum Alkohol begann und bis heute anhält. Im Nahen Osten war es das Opium, in Südamerika die psychedelischen Kakteen und in Indien und China das Marihuana, das traditionell verwendetet wurde und mit dem die Völker gelernt hatten, in sinnvollem Rahmen zusammenzuleben. Im Laufe der Eroberungsfeldzüge und der Kolonialisierung hat ihnen der Westen jedoch den Alkohol als einziges in einer zivilisierten Gesellschaft akzeptables, ja sogar gewünschtes “Betäubungsmittel” aufgezwungen, wodurch riesige kulturelle und gesundheitliche Schäden angerichtet wurden. Und wie feierten die westlichen Eroberer den Übertritt der unterworfenen Völker von ihren traditionellen Bewusstseinserweiterern zu dem mitgebrachten Feuerwasser der Eroberer? Natürlich, indem sie sich zuprosteten!

Der Professor wusste schon immer, dass die Mehrheit der Leser seine Meinung nicht teilen würde. Nach dem Vorbild von Samuel Butler greift er daher nur dann zur Feder, wenn er die Ansichten, die die Meinung der Mehrheit formen sollen, für falsch hält. Rund vierzig Jahre nach der Erstausgabe seines Buches “Zeremonielle Chemie” können wir bei den Menschen, die illegale Drogen verwenden – und zwar insbesondere bei den Hanfkonsumenten – ein langsames Erwachen zum Selbstbewusstsein beobachten. Dank dieser Tatsache gerieten in Szasz’ Wahlheimat nach einem über mehrere Jahrzehnte hinweg geltenden Verbot nun die Befürworter der Marihuana-Legalisierung in Mehrheitsposition. Natürlich sind wir noch weit davon entfernt, dass die Gesellschaft jene Menschen, die sich nicht dem einzigen akzeptierten Aufputschmittel – dem Alkohol – verschreiben, toleriert. Geschweige denn, dass man ihre Entscheidung auch zu schätzen weiß. Professor Szasz hat jedenfalls mit seinem Lebenswerk entscheidend dazu beigetragen, dass auch dieser Zustand erreicht werden kann.

Jack Pot

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