Wundervoller Geist

Der falsch verstandene IQ-Verfall

Eine weitverbreitete, immer wiederkehrende Befürchtung zum Thema Kiffen lautet, dass man durch viele High-Zustände auf die Dauer – vereinfacht gesagt – verblödet. Seitdem die ForscherInnen dieser Frage nachgehen, wird langsam klar, dass wir es hier nicht mit einer einfachen Erscheinung von Ursache und Wirkung zu tun haben und dass sich die Gesamtheit der Lebensumstände der kiffenden Teenies auf die Ausbildung ihrer Intelligenz niederschlägt.

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Ein Heranwachsender kann trotzig behaupten, dass es ihm ein paar Punkte weniger IQ wert ist, sich gut zu fühlen, das Leben in vollen Zügen zu genießen, sich mit den Kumpels zu vergnügen oder in einem abgehobenen Moment an Weltveränderung zu denken. Das ist vollkommen berechtigt. Selbst Erwachsene wissen nicht, wie sehr der IQ das Leben eines Menschen bestimmt. Untersuchungen, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, behaupten, dass sich Intelligenz oft mit Selbstsicherheit, Offenheit, Kreativität, finanziellem und gesellschaftlichem Erfolg paare. Diejenigen, die über einen geringeren Intelligenzquotienten verfügen, landeten dagegen häufiger im Gefängnis und bei ihnen liege auch die Selbstmordrate höher. Wenn wir die Frage von hier aufrollen, ist es absolut nicht gleichgültig, ob Kiffen in der Jugend die Intelligenz beeinflusst. In diesem Alter rauchen rund um die Welt Millionen ihren ersten Joint. Schauen wir uns einmal an, was die Wissenschaft dazu sagt.

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Der Intellekt ist ein Rätsel 

Die Auswirkungen des Cannabis auf den IQ sind bis zum heutigen Tage ein Thema, zu dem aktiv geforscht wird. Um sich ein Bild vom gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zu machen, genügt für den Anfang ein Blick in die Fachliteratur der 2010er Jahre. Viel Staub wirbelte eine 2012 publizierte Studie auf, die die Intelligenz und verschiedene mentale Funktionen bei 1.000 neuseeländischen Jugendlichen im Alter von 13 bis 38 Jahren untersuchte. Sie besagt, dass die Testpersonen, die in ihrer Jugend wöchentlich mindestens einmal Cannabis konsumierten, mit etwa 30 Jahren über einen acht Punkte geringeren IQ verfügen, während bei jenen, die erst mit 18 anfingen zu kiffen, keine vergleichbare Veränderung feststellbar ist. Der Forschungsleiter erklärte, wenn der Cannabiskonsum erst mit 18 Jahren einsetzt, bestehe keine Gefahr für die Entwicklung der Intelligenz. Gerade begann die Wissenschaft sich mit diesem – früher bezweifelten Gedanken – anzufreunden, als ein Jahr später eine weitere Studie das Licht der Welt erblickte. Ein norwegischer Forscher untersuchte die gleiche Datenbank mit den 1.000 neuseeländischen Testpersonen und verwarf den bis dato vermuteten ursächlichen Zusammenhang. Er bezog weitere Faktoren mit ein und kam zu dem Schluss, dass der belegte IQ-Verfall nicht mit dem Kiffen in der Jugend zusammenhängt, sondern mit dem niedrigeren sozialen und wirtschaftlichen Status der Personen. Die Herkunft aus einer sozial und wirtschaftlich schwächeren Familie kann demnach grundsätzlich zu schlechteren IQ-Werten führen, denn diese Jugendlichen haben schlechtere Aussichten auf eine mittlere Bildung und Jobs, die geistig anspruchsvoller sind. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit, dass Jugendliche mit einem solchen Hintergrund vor Erreichen des 18. Lebensjahres regelmäßig zu kiffen beginnen, höher. Und daher steht nicht eindeutig fest, ob der niedrigere IQ mit der ärmeren Herkunft und den geringeren Chancen zur Selbstverwirklichung zusammenhängt, oder vielleicht eine Kombination aus beiden Faktoren darstellt.

Anderthalb Jahre vergingen, bis die Wissenschaft die nächste Studie lieferte, die mit noch mehr Stichproben und unter Einbeziehung neuer Aspekte ihr Urteil fällte. Die ForscherInnen des University College London untersuchten über 2.200 Intelligenztests von Jugendlichen zwischen acht und 15 Jahren. Bei der zweiten Erhebung wurden auch Fragen nach dem Drogengebrauch gestellt. Auch sie stellten fest, dass sich der Cannabisgebrauch mit einem niedrigeren IQ paart, sie entdeckten aber auch, dass das Kiffen stark mit dem Konsum von Tabak, Alkohol und anderen Drogen einhergeht. Als die ForscherInnen diese Faktoren mit dem Fokus auf den Cannabiskonsum austarierten, verschwand der Zusammenhang zwischen Kiffen und niedrigerem Intelligenzquotienten – nur diejenigen zeigten ein um 3% schlechteres Ergebnis, die im Alter von 15 Jahren mindestens 50-mal Cannabis konsumiert oder als regelmäßige KonsumentInnen galten. Bei ihnen zeigte sich das schlechtere Ergebnis sogar schon ein Jahr früher. Nach Auffassung der ForscherInnen sollte man sich bei der Einschätzung nicht so sehr auf die einzelnen Drogen und ihre Wirkungen konzentrieren, sondern auf die Lebensform des Heranwachsenden und seine/ihre persönliche Geschichte. Das Kiffen in der Jugend stehe nämlich oft im Zusammenhang mit Trinken, Rauchen und anderem riskanten Konsumverhalten. Man könne auch nicht sicher sein, dass Kiffen die schulischen Leistungen verschlechtert, oder umgekehrt, dass jemand zu kiffen beginnt und andere Drogen konsumiert, weil seine Leistungen schlechter sind als die seiner Kumpane. Die ForscherInnen warnen daher, irgendeiner Droge die Schuld zuzuschreiben, weil dann zahlreiche andere Faktoren außen vor blieben, die gleichfalls verantwortlich für ein schlechteres Abschneiden sein können.

A lab technician tests plants at the Institute of Medicinal and Aromatic Plants near Taounanat, in northeastern Morocco, where many farmers in the region faced a 2004 campaign to eradicate cannabis farming. A lab worker at the Institute of Medicinal and Aromatic Plants (INPMA) near Taounanat, in north-eastern Morocco, works on August 10, 2010. Many farmers in the north-eastern region of Morocco, faced with a 2004 campaign to eradicate cannabis farming, have since converted their fields to cultivate local produce, including saffron, figs, and prunes. Since 2007, the Moroccan authorities have struggled to battle the trafficking of drugs in the north-east of Morocco, but the cultivation of Cannabis plants has been cut back from 130,000 hectares to 56,000 hectares. AFP PHOTO/ABDELHAK SENNA (Photo credit should read ABDELHAK SENNA/AFP/Getty Images)

Die Zwillingslösung

Im Januar diesen Jahres bereicherte eine weitere Studie das Portfolio, die sich neuen Gesichtspunkten zuwendet und uns der Lösung der Frage näherbringen kann. Sie legt die Erfahrung zugrunde, dass die Genetik mindestens zur Hälfte über den individuellen IQ entscheidet, und untersuchte deshalb Zwillinge, um festzustellen, wie sehr das Kiffen die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. „Die meisten Forschungen geben eine Momentaufnahme wieder”, sagt Forschungsleiter Nicholas Jackson, „aus der nicht hervorgeht, ob der Drogenkonsum oder die schlechten Leistungen zuerst da waren. Das klassische Dilemma. Das Huhn oder das Ei?” Um zuverlässigere Ergebnisse als alle bisherigen Untersuchungen zu erhalten, entschied die südkalifornische universitäre Forschergruppe, eineiige Zwillinge auf die Auswirkungen von Marihuanakonsum zu untersuchen. Von zwei aktuellen Studien ausgehend, die schon seit zehn Jahren andauern, nahmen sie die Daten von 789 jugendlichen Zwillingen unter die Lupe, die schon im Alter von neun bis elf Jahren erfasst worden waren. Man unterzog sie fünf Intelligenztests, und es gab vertrauliche Untersuchungen über den Gebrauch von Marihuana und anderen Drogen, beispielsweise Kokain, Alkohol und Schmerzmitteln. Und jetzt wird es interessant: Zwar schlossen die MarihuanakonsumentInnen im Durchschnitt mit vier IQ-Punkten schlechter ab als die anderen. Überraschend war jedoch, dass die Tests der nicht kiffenden Zwillingspaare genau das gleiche Ergebnis aufzeigten: Bei den Zwillingspaaren zeigte der Zwilling, der mindestens ein halbes Jahr lang täglich Gras geraucht hatte, das gleiche Ergebnis wie der andere, der höchstens 30 Mal Gras geraucht hatte. Wir haben es also entweder mit dem esoterischen Phänomen zu tun, dass der Cannabiskonsum eines Zwillings sich auf die Entwicklung der Intelligenz des anderen Zwillings auswirkt, oder mit der wahrscheinlicheren Erklärung, dass die Gründe jenseits des Kiffens liegen, vielleicht im Zuhause des Zwillingspaares, in der Schule oder in den Beziehungen zu Gleichaltrigen. Laut Forschungsleiter Jackson gibt es immer mehr Beweise dafür, dass das Kiffen in der Jugend nicht zu einer Verminderung der Intelligenz führt, was aber nicht bedeute, dass der regelmäßige Graskonsum bei Teenagern unproblematisch sei, daher seien weitere Untersuchungen über die Auswirkungen von Marihuana auf das Gehirn notwendig.

Und wie üblich blieb auch diese Untersuchung nicht ohne Kritik. Einige wiesen darauf hin, dass die beiden laufenden Untersuchungen – aus denen die Daten stammen – unterschiedliche Methoden bei der Erfassung des Drogenkonsums anwandten. Der eine Test sei weniger gründlich bei der Aufzeichnung und der Art und Weise des Kiffens und analysiere weniger die Häufigkeit und die konsumierte Menge. Anderen fehlt die gründliche Analyse der Wirkung anderer Drogen auf den Intelligenzquotienten. Sicher ist also, dass die Wissenschaft den Fall noch nicht abgeschlossen hat, und sehr wahrscheinlich werden die WissenschaftlerInnen, die alle Probleme auf das Kiffen zurückführen, in den nächsten Jahren auch mit etwas Neuem glänzen. Insgesamt kann niemand den Jugendlichen einen besseren Rat geben als der Chef von South Park: „Alles hat seine Zeit und seinen Ort, und das ist das Universum.“

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