Vom Ritual bis zur Apotheke

Der Einsatz von Cannabis in der Heilkunst seit 5000 Jahren

„Wenn man heutzutage auch schon solche Zeitschriften kaufen kann, gibt’s den Cannabis bestimmt schon in der Apotheke wenn  mein Sohn in die Pubertät kommt!” – ereiferte sich eine Passantin gegenüber einer Boulevard-Zeitung, nachdem sie unser Magazin entdeckt hatte. Dabei ist Cannabis neben  zahlreichen anderen  Drogen immer häufiger in der Apotheke erhältlich, allerdings wird es längst nicht mehr so vielseitig eingesetzt wie in früheren Epochen der Geschichte.

 

Und trotz alledem ist die Welt seither noch immer nicht zusammengebrochen! Früher entwickelten sich die Gesellschaften und Gemeinschaften im Allgemeinen zwar etwas langsamer, denn die Menschen verbrachten wesentlich mehr Zeit im Jetzt und hetzten weniger dem Morgen nach und somit auf das unvermeidbare Ende zu. Früher oder später wird natürlich auch der Mensch von heute darauf kommen, dass jenes Tempo das normale und vernünftige war, und sich das, was wir jetzt haben, nicht aufrecht erhalten und eigentlich nicht einmal tolerieren lässt. Wenn wir irgendetwas von den Menschen aus den damaligen Zeiten lernen können, dann wäre es die offene und interessierte Grundeinstellung gegenüber der Welt, die uns umgibt, und selbstverständlich auch gegenüber den Pflanzen, mit denen wir als Bestandteil unserer Umwelt, zusammenleben. Außerdem könnten wir uns auch abschauen, wie man die Umwelt nachhaltig nutzt, sodass hierdurch sowohl unsere als auch die Lebensqualität der Umwelt gesteigert würde.

Bei den Chinesen fing es an

Aus den erhaltenen Schriftstücken geht hervor, das die Geschichte des Cannabis in der Medizin vor etwa 5000 Jahren begann, und zwar dank der Unterstützung durch den chinesischen Kaiser Shen Nung, der nicht nur Herrscher war, sondern sich so intensiv mit der Erforschung der Wirkung von Pflanzen auf den menschlichen Körper beschäftigte, dass er sich den Namen des „Vaters der chinesischen Heilkunst und Pharmakologie“ zurecht verdiente. Um 2700 v. Chr. legte er eine Heilkräutersammlung an, die den chinesischen Ärzten über Generationen hinweg als eine der wichtigsten Quellen diente. In den Aufzeichnungen werden auch die Anwen-dungsbereiche des Cannabis in der Heilkunst beschrieben, was sie zum ältesten chinesi-schen schriftlichen Nachweis über diese Arznei macht, aber es ist auch die Rede von einer andere  Wunderdroge der Chinesen: dem Tee! Das Werk des Kaisers, der bis zur Maoistischen Revolution quasi als Heiliger verehrt wurde, zählt zahlreiche Anwendungsbereiche der Hanfpflanze auf, in erster Linie jedoch für die Hanfsamen, die sozusagen frei von psychoaktiven Wirkungen sind.

Shen Nung selbst geriet durch die Yin und Yang Lehre zum Hanf, und ging davon aus, dass die Blüte der Pflanze eine enorme Speicherkapazität für Yin-Energien besitzt und so der weiblichen Dynamik sehr nahesteht. Daher stellte er fest, dass Krankheiten, die auf einen Yin-Mangel schließen lassen, mit ihrer Hilfe geheilt werden können. Im Sinne dieser Logik hielt man den Hanf für wirksam bei Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen, rheumati-schen Schmerzen, Verstopfung, Malaria und Beriberi. Der experimentierfreudige Herrscher und  Pflanzenforscher soll den Aufzeichnungen zufolge 365 verschiedene Heilpflanzen gekostet haben, bis er schließlich an einer Vergiftung starb. Die Chinesen haben sich zwar die Heilwirkung des Hanfes früher zunutze gemacht, aber dennoch spielte er dort nie eine derartig bedeutende Rolle wie in Indien.

 

Wedische und rituelle Heilkunst

Den Hanf verwendeten die Inder sowohl in der Heilkunst als auch bei religiösen Zeremonien und  zu Erholungs-Zwecken. Rund 800 v. Chr. entstand die Atharvavéda-Sammlung deren Ergänzungsteil sich Ayurvéda nennt.  Cannabis gehört zu den fünf heiligen Pflanzen Indiens und gilt als Quelle des Glücksgefühls, der Freude und der Freiheit. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Hanf bei zahlreichen rituellen Tätigkeiten einer Rolle spielte bzw. oft auch im Mittelpunkt des Rituals stand. Die psychoaktiven Wirkungen der Pflanze waren in Indien wohlbekannt, was sich unter anderem auch daraus ableiten lässt, dass sie die Pflanze auf unterschiedliche Art und Weise zubereiteten. Der allermildeste „Bhang“ bestand aus getrockneten Blättern, aus denen die Blüten vorsichtig entfernt worden waren. Ein wenig stärkere Wirkung zeigt der „Ganja“, der aus den Blüten der weiblichen Pflanzen zubereitet wird, und die intensivste Wirkung erzielten die historischen Kiffer mit dem abgeriebenen Harz der Pflanzen, dem sogenannten Charas. Nicht nur die Veden sondern auch die  nach der Belagerung durch die Araber im 9. Jahrhundert in Indien eingebürgerte neue Form der Heilkunst, die Unani Tibbi nutzen die vielseitigen Anwendungsbereiche des Cannabis. Man glaubte unter anderem an die Heilwirkung der Pflanze zur Beruhigung des Nervensystems, zur Anregung des Verdauungssystems, zur Steigerung der Libido, als Schmerzmittel, bei Beschwerden der Atemwege, bei Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und äußerlich angewendet bei Entzündungen, Brüchen und sogar gegen Schuppen.

Im Tibet wird Cannabis seit Jahrtausenden als heilige Pflanze verehrt. Die im Himalaya geborenen Anhänger des tantrischen Buddhismus greifen z.B. zur Vertiefung der Meditation auf die grüne Heilige zurück. Auch wenn sich nur wenige Beweise dafür auffinden lassen, so gehen die Forscher dennoch davon aus, dass im Tibet der Einsatz von Cannabis in der Heilkunst verbreitet war, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Tibe-tische Heilkunst in der indischen Medizin verwurzelt ist und andererseits deswegen, weil die Pflanze in der Gegend üppig wuchs.

Auf der Arabischen Halbinsel berichtete man bereits um das Jahr 1000 v. Chr. von den medizinischen Vorteilen des Cannabis, unter anderem so berühmte Ärzte wie Avicenna. Er hob besonders die schmerzstillende Wirkung, die wassertreibenden Eigenschaften und die verdauungsfördernde Wirkung hervor und außerdem stellte er fest, dass Cannabis krankhafte Blähungen lindern kann und geistig anregende Wirkung hat. Im 15. Jahrhundert berichtete der arabische Arzt Ibn al-Badri über einen interessanten Falle: das Kind der Konkubine des Kalifen konnte mit Cannabis-Harz erfolgreich von seiner Epilepsie geheilt werden, allerdings wurde es daraufhin Haschisch abhängig. Aus einer derartigen zeitlichen Entfernung lässt sich natürlich nicht mehr nachvollziehen, ob tatsächlich eine psychische Abhängigkeit zustande gekommen war, oder ob der regelmäßige Konsum zur Prävention neuer Epilepsie-Anfälle begründet war.

Aufgrund der Ähnlichkeit des Wortes, das man für Cannabis verwendet, kann man davon ausgehen, dass mit den indischen Händlern des 15. Jahrhunderts indischer Hanf auch nach Afrika gelangte. Die Pflanze wurde zur Heilung von Schlangenbissen, zur Hilfe während der Geburt, gegen Malaria, Fieber, Blutvergiftung sowie zu Behandlung von Ruhr verwendet. In den Zeiten der Eroberungszüge nahmen die nach Südamerika verschleppten afrikanischen Sklaven die Samen der Pflanze mit, sodass im 16. Jahr-hundert auch in Brasilien bereits mit der Cannabis-Zucht begonnen wurde. In den vorwiegend von Schwarzen bewohnten Landstrichen tauchte der Hanf in diversen Ritualen auf, wurde aber auch erfolgreich zu Linderung von Zahn- und Menstruations-schmerzen genutzt.

Der Westen bekommt etwas mit

Nach Europa wurde der Cannabis vermutlich durch erobernde Skita-Stämme eingeführt. Um 450 v, Chr. berichtet Herodotos davon, dass sich die Skita im Rahmen einer Beerdigungszeremonie versammelten, den Rauch der brennenden Pflanzen und Samen inhalierten und dadurch in einen euphorischen Zustand gerieten.

Die Griechen und Römer bauten den Hanf in erster Linie wegen seiner Fasern an, aller-dings berichtete der Chirurg des Kaisers Nero auch über die Heilwirkungen der von ihm als Cannabis Sativa bezeichneten Pflanze. Im 12. Jahrhundert begannen die Mohamme-daner zunächst in Spanien und anschließend in Italien das aus Hanf hergestellte Papier zu verbreiten, allerdings lassen sich in den folgenden 500 Jahren kaum Nachweise über den menschlichen Verzehr in den Überliefe-rungen finden.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelangte der Cannabis bei den europäischen Ärzten in den Mittelpunkt des Interesses, vor allem durch die homöopathische Anwendung der Hanfsamen. Der Durchbruch in der westlichen Welt gelang dem irischen Arzt William B. O’Shaughnessy und dem französischen Psychiater Moreau. Die durchaus positiven Ergebnisse von O’Shaughnessy, einem Chemieprofessor und Chirurg am Medizinischen Kolleg von Kalkutta, verhalfen der Pflanze in den 1840-er Jahren zu Verbreitung in Europa und den USA. Der irische Forscher wies anhand seiner Studien nach, dass sich der Hanf erfolgreich zur Anregung des Verdauungs- und des Nervensystems einsetzen lässt, darüber hinaus auch schmerzstillende und beruhigende Wirkung hat und die schädlichen Nebenwirkungen seines Konsums bei weitem nicht so gravierend sind, wie man das bisher vermutet hatte. Bereits in den 1840-er Jahren begann man die Herstellung der Cannabis-Tinktur in England, die man wie eine Art Wundermittel behandelte. Ihr Einsatz in diversen medizinischen Bereichen verbreitete sich schnell. Sie wurde auch erfolgreich gegen Migräne und Delirium eingesetzt, sowie zur Linderung der Schmerzen bei Lungenkranken in der letzten Phase ihrer Krankheit. Darüber hinaus wurde das Mittel auch bei Menstruationsproblemen wie Schmerzen und übermäßiger Blutung angewandt.

Ungefähr parallel zur Arbeit O’Shaugh-nessy´s startet Moreau – aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Haschisch – eine Studie, in der er die verschiedenen Cannabisprodukte einmal gründlich und systematisch unter die Lupe nehmen wollte. Der Psychiater arbeitete zunächst mit Selbstversuchen, später jedoch experimentierte er auch unter Mitwirkung Pari-ser Intellektueller. Hierzu gründete er den berüchtigten Haschisch Club, wo er nach eingehenden Studien zu dem Schluss kam, dass bei gesunden Menschen unter Erhalt der Bewusstseinskontrolle der Rausch kontrolliert stimuliert werden kann. In seiner 1845 publizierten Studie sammelte er die akuten Wirkungen des Cannabis, worin er erklärte, dass Cannabis einzigartige Möglichkeiten zur Erforschung der Ursachen von mentalen Krankheiten biete.

Die nachweisliche Wirksamkeit von Cannabis auf körperliche und geistige Symptome hatte einen wesentlichen Einfluss auf die europäische und amerikanische Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ab den 1860-er Jahren verschreiben auch die Ärzte in den USA immer häufiger Cannabiserzeugnisse als Schmerzmittel, gegen Angstzustände, bei Schlaflosigkeit, zur Heilung von Epilepsie und Depressionen und verwendeten es sogar zur Behandlung von Drogenabhängigkeit. Man entdeckte einen entscheidenden Vorteil des Cannabis gegenüber dem Opium, und zwar die Tatsache, dass bei langfristigeren Behandlungen die Cannabisdosen nicht erhöht werden müssen, da bei den Patienten keine Anzeichen der Gewöhnung (Toleranz) auftraten. Trotz alldem ist die Anwendung von Opium nach wie vor weitverbreitet, obwohl sie mit einem größeren Risiko einhergeht, allerdings hat sich Opium auch als noch effektiveres Schmerzmittel erwiesen.

 

Regelung dank Profitinteressen

Nach der Jahrhundertwende wurde der Einsatz von Cannabis in der Medizin durch die zahlreichen neuen, synthetisch hergestellten Medikamente sowie durch die Erfindung der Injektion zurückgedrängt. Außerdem wurde nach einem missglückten Versuch eines Alkoholverbots im Jahre 1920 eine extrem negative Anti-Marihuana-Kampagne in den USA eingeleitet und trotz der Proteste des Amerikanischen Ärztebundes wurde das bis dahin mühsam aufgebaute Image des Marihuana in der Medizin zunichte gemacht, und nach einigen Jahren wurde es sogar für illegal erklärt. Auch in Europa wartete ein ähnliches Schicksal auf den Cannabis. Trotz alledem versuchte ein Großteil der Ärzte sich weiterhin für den Einsatz von Cannabis in der Medizin einzusetzen, und im Jahre 1980 wurde erneut das Genehmigungsverfahren für Cannabis in der Medizin aufgenommen – unter anderem zu Linderung der Symptome bei Patienten mit  Multipler Sklerose, AIDS und Patienten, die sich eine Chemotherapie unter-ziehen mussten. Zwar hatte man mit dem Genehmigungsverfahren noch keinen Erfolg, die Forschungen wurden jedoch fortgesetzt, bis das Heilzentrum der Nationalen Akademie der Wissenschaften in den USA 1999 offiziell erklärte, dass Cannabis über Therapiepotenzial verfüge und somit seinen Einsatz in der Medizin als wünschenswert und wissenschaftlich begründet erklärte. Dank eines Prozesses aus dem Jahre 2000 kann die Regierung nun nicht mehr den Ärzten vorschreiben, ob sie ihren Patienten Marihuana verschreiben oder nicht. Zur Zeit ist in 15 Bundesstaaten der USA der Einsatz von Marihuana zu medizinischen Zwecken erlaubt. In Kanada, wo die Drogenpolitik ein wenig pragmatischer gehandhabt wird, konnte das Programm zum Einsatz von Marihuana in der Medizin schon ein wenig früher anlaufen, in größerem Einklang mit der Regierung. In der Hauptstadt der Westküste, in Vancouver können seit 2001 mehrere Tausend Patienten das für ihre Behandlung erforderliche Cannabis legal, auf Rezept in hierauf spezialisierten Clubs oder Läden erwerben, bzw. sogar telefonisch bestellen. Die kanadischen Patienten beschweren sich häufig, dass das staatlich zur Verfügung gestellte Cannabis nicht ihren Qualitätsvorstellungen entspräche, und dass nur eine einzige Sorte angeboten würde, obwohl der Patient bei der Arzneimittelindustrie zwischen mehreren Sorten wählen könne. Daher verlassen sich viele Leute lieber auf den Eigenanbau (Heimzucht), wofür man in den Vereinigten Staaten auch schon eine Genehmigung einholen kann.

G. Holland

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