Undankbares Kind

„Die Legalisierung hat medizinisches Cannabis vernichtet”

Neben den FreizeitkonsumentInnen hegten auch viele Kranke große Erwartungen bezüglich der Legalisierung von Cannabis im Bundesstaat Washington, doch wurde die Mehrheit von ihnen enttäuscht. Wir haben Dr. Dominic Corva, Leiter des Cannabis and Social Policy Center (CASP) in Seattle, zu den Anomalien der legalen Regelung und deren Auswirkungen auf PatientInnen befragt.

Medijuana: Wie bist du in die Cannabisszene gelangt?

Dr. Dominic Corva: Ich habe ein Diplom als Geograf. Meine Forschungsthemen an der Universität von Washington waren der Drogenkrieg und der illegale Drogenmarkt. Ich forschte in Bolivien über Coca, den Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise und der Marktbildung. Im Verlaufe meiner Studien lernte ich den Aktivismus für andere Drogen, in erster Linie für Cannabis, kennen. Da ich selbst auch Konsument war, entschied ich mich für ein Forschungsthema, das mir nicht zu nahe stand. Später, während einer Fortbildung an einer Universität im Staat Washington und danach an der Humboldt Universität in Nordkalifornien, verfolgte ich die Konjunktur des medizinischen Cannabis und diverse Planungen der Legalisierung. Infolgedessen entschloss ich, eine eigene Organisation zu gründen.

MED: Womit beschäftigt sich die CASP genau?

DC: Die CASP ist eine zivile Organisation, die sich mit Forschung und Lehre beschäftigt. Den Begriff Lehre muss man weit fassen, als Information, bei der die Entscheidungsträger die Zielgruppe bilden, also Akademiker und ein Teil der Fachleute der Cannabisindustrie.

MED: Wie entstand das Profil der Organisation?

DC: Ich führte lange Gespräche mit Züchtern, die schon seit den sechziger Jahren aktiv sind und die Basis für den amerikanischen Cannabismarkt bereitet haben. Vor dieser Zeit wurde aus Mexiko importiert. Das ist der Ausgangspunkt für meine Untersuchung der Marktausbildung, die zu einem komplexen Regulierungs-Framework geführt hat, und auch zu einigen Widersprüchen. Die gegenwärtige Situation nenne ich zusammenfassend Post-Prohibition, und genau damit beschäftigt sich CASP. Wir untersuchen, wie das weiter bestehende bundesstaatliche Verbot die Legalisierung ausformt. Beim Verbot geht es nicht in erster Linie um das Cannabis, sondern um gesellschaftliche Kontrolle.

MED: In der Debatte um die Legalisierung gab es viele Argumente und Gegenargumente zur Ausbildung von Marktverhältnissen. Welche Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich des geregelten Marktes haben sich fünf Jahre nach der ersten Legalisierung bewahrheitet und welche Widersprüche haben sich herauskristallisiert?

DC: Eine der größten Befürchtungen bestand darin, dass große Cannabisfirmen entstehen würden. Im Staat Washington hat die explosionsartige Legalisierung das medizinische Cannabis praktisch vernichtet. Vor der Legalisierung waren die Gesetze zur Regulierung des medizinischen Cannabis nicht so streng, bedeuteten eher eine Entkriminalisierung. Medizinisches Cannabis brachte auch keine ernstzunehmenden Einnahmen für den Staatshaushalt. Es wurde in kleinen Gärten angebaut und das System rundherum hatte nichts mit modernem Kapitalismus zu tun. Von großen Profiten war keine Rede, die Regulierung betraf nur einen kleinen Kreis, der durch das Aufeinander-angewiesen-Sein und die Stigmatisierung als Gemeinschaftserlebnis zusammengehalten wurde. In der Epoche der Legalisierung zählen diese Werte nicht mehr. Nur ein Wert zählt heute: Geld.

MED: In Kanada Zeilenumbruch prüfen nach der Legalisierung Probleme, weil die Züchter sich auf den Markt der Freizeitdrogen begaben, der mit größeren Profiten lockte. Geschieht in den USA etwas Ähnliches?

DC: Ja und nein. Zum größten Teil haben nicht die Züchter entschieden, auf den Freizeitmarkt umzuschwenken. Im Staat Washington war das beispielsweise die einzige Möglichkeit, weil das Programm für medizinisches Cannabis ausgesetzt wurde. In Oregon und Kalifornien geschieht das Gleiche. Es wurde unmöglich und illegal, den medizinischen Markt zu bedienen.

MED: Wer produziert nun Cannabis für die Patienten?

DC: Zum einen der Schwarzmarkt, zum anderen verschiedene Netzwerke, die sich vor zehn Jahren entwickelt haben, um Patienten Zugang zu bezahlbaren Medikamenten zu bieten. Damals war die Qualitätssicherung direkt, denn Patienten und Anbauer kannten einander. Der Patient konnte die Plantagen besuchen und sich von der Herstellung ein Bild machen. Durch die Legalisierung wurden Produktion und Handel getrennt. Und die Regulierung, die dies bewirkt hat, konnte bisher ihre Versprechen nicht verwirklichen, beispielsweise eine allgemeine Qualitätskontrolle oder eine Festsetzung zuverlässiger THC- und CBD-Werte. Natürlich können Patienten medizinische Produkte in den Cannabisgeschäften kaufen, aber das Gesetz verbietet die Reklame dafür, weswegen man Medizinalhanf nur schwer findet. Das größte Problem ist, dass die Patienten das Vertrauensverhältnis zu ihren früheren Anbauern verloren haben.

MED: Zudem haben Patienten einen Bedarf nach einem Produkt mit konstanter Zusammensetzung und Qualität, um ihre Krankheiten angemessen behandeln zu können.

DC: Die Patienten müssen regelmäßig viele Sorten und Produkte ausprobieren, um das für sie wirkungsvollste Cannabis zu finden. Das Endocannabinoidsystem jedes Konsumenten ist individuell, weswegen alle Sorten bei jedem anders wirken. Im gegenwärtigen System hast du das Recht, mit allem zu experimentieren, aber die Mittel sind sehr teuer, man kann sie nicht beschnuppern und man kann mit dem Verkäufer nicht über eigene Erfahrungen reden, wie es früher möglich war. Der Zugang zu Informationen wurde beschränkt. Aber es ist nicht alles negativ. Unter den Freizeitprodukten tauchen sehr interessante Dinge auf, die man am ehesten als Nahrungsergänzungsmittel auf Pflanzenbasis einordnen kann, obwohl für die positiven Wirkungen nur sehr begrenzt Werbung gemacht werden kann. Vertrieben werden beispielsweise Tabletten, die THC, CBD, Terpene, Baldrianwurzel und Vitamin B enthalten, aber durch die Steuern sind diese Produkte sehr teuer.

MED: Und Kranke können sie nicht auf Rezept bekommen.

DC: Das konnten sie auch früher nicht, aber man konnte auf Medikamentenspenden hoffen. Registrierte Kranke bekamen von Apotheken kostenlos Blüten, Öl oder andere Cannabisprodukte. Diese Möglichkeit besteht heute nur noch in der Theorie, nicht aber in der Praxis. In dem momentanen, stark regulierten System in Washington und den meisten anderen Staaten verdient niemand mit Cannabis Geld. In Washington liegt die Steuer bei 48 Prozent, wozu für die kleinen Händler noch die Bundessteuer kommt. Eine bundesweite Legalisierung, mit der man die Probleme lösen könnte, wird von der Regierung als Förderung krimineller Machenschaften angesehen und nicht als Förderung von Wirtschaftsleistungen. Unter solchen Umständen kann von Medikamentenspenden kaum die Rede sein. In Colorado werden die Einnahmen aus dem Cannabisgeschäft heute zum Wohle der Gemeinschaft eingesetzt. In Washington war zwar ein ähnliches System geplant, doch die Gesetzgebung entschied anders und hält ihre Hand auf die Einnahmen.

MED: In welchem Staat sind die Gesetze für einen Cannabispatienten am vorteilhaftesten?

DC: Wir müssen bedenken, dass wir nur von drei ausgereiften legalen Märkten sprechen können: Washington, Colorado und Oregon. Bei jedem von ihnen kann man positive Beispiele anführen. Zu meiner eigenen Überraschung würde ich momentan Colorado hervorheben, obwohl ich grundsätzlich glaube, dass die beste Politik an der Westküste gemacht wird (lacht). Colorado unterstützt die Forschung und schreckt im Gegensatz zu Washington nicht davor zurück, Erwachsenen den Eigenanbau zu gestatten. Jedoch gibt es Elemente, die im Modell von Colorado fehlen. Wie zum Beispiel die Wiedergutmachungsprogramme in Kalifornien, Maine und Massachusetts, die es bis zu einem gewissen Grad ermöglichen, die vom Drogenkrieg verursachten Schäden auszugleichen. In Kalifornien hingegen wurden rückwirkend die Strafen annulliert, die für den Besitz geringer Mengen verhängt worden waren, was eine sehr positive Entwicklung ist.

MED: Positive Praktiken anderer Staaten kann man auch in kommunale Gesetze einfließen lassen, wenn auch nicht sofort.

DC: Stimmt. Wenn man etwa in Colorado eine positive Praxis in Kalifornien wahrnimmt, kann man sie übernehmen, aber das braucht seine Zeit. Daher denke ich, dass das Verbot, auch wenn es nur eine Rechtskonstruk-
tion ist, in Wirklichkeit ein Kulturprodukt ist. Es ist allen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele haben zum Beispiel Angst davor, mit Cannabiskonsum in Verbindung gebracht zu werden, aber deswegen sind sie keine schlechten Menschen. Je näher sie der Sache kommen, beispielsweise durch die Angehörigen eines Cannabispatienten, desto mehr verändert sich die Einstellung. Das gehört zur Veränderung einer Kultur. Die Kultur des Verbots wird so lange fortbestehen, so lange der letzte Mensch lebt, der in ihr aufgewachsen ist und dessen Glaubensgefüge sie bildet.

MED: Laut Untersuchungen seit Ende der sechziger Jahre verringert sich die Zustimmung für das Verbot in den USA Jahr für Jahr und seit ein paar Jahren sind die Befürworter der Legalisierung in der Mehrheit.

DC: Das ist zum großen Teil der Tatsache zu verdanken, dass viele sich zum Cannabiskonsum bekannt haben. Das erinnert sehr an die Bewegung für die Homosexuellenrechte. Die Menschen verachteten Homosexuelle, solange nicht einer ihrer Verwandten dazugehörte. Nach Veröffentlichung zahlreicher Studien stieg die Akzeptanz der Homosexuellen kontinuierlich. Dies ist auch heute beim Cannabis der Fall. Der Einsatz von medizinischem Cannabis hat die Akzeptanz des Kiffens erhöht. Daher ist es eine Schande, dass die Legalisierung des medizinischen Cannabis, die den Weg erst freigemacht hat, in den Hintergrund gedrängt wird.

MED: Welche Veränderungen würde eine bundesweite Legalisierung bringen?

DC: Bankgeschäfte, Bankgeschäfte und nochmals Bankgeschäfte. Kreditinstitute im Staate Washington haben gewaltige Summen für Bankgeschäfte im Zusammenhang mit Cannabis zur Verfügung gestellt. Dabei versucht man zu verheimlichen, dass man das Geld für ein Cannabisunternehmen benötigt. Wenn es trotzdem herauskommt, kann man sich eine andere Bank suchen. Das ist gleichzeitig ärgerlich und teuer. Besonders für kleine Firmen ist es problematisch, wenn sie keine Kredite bekommen. Eine Öffnung vonseiten der Bundesbank wäre eine große Hilfe für die kleinsten Akteure. Die Produkte überschreiten die Staatsgrenzen, was den illegalen Handel zurückdrängt. Die Frage ist, wie eine bundesweite Legalisierung aussehen würde. Soll es ein solch zentrales, strenges Bundesmodell geben wie in Kanada oder können die Staaten ihre eigenen Modelle adaptieren? Ich rechne mit einem zentralisierten Modell, was allerdings auch nach hinten losgehen kann, wenn es zu streng gehandhabt wird. Wenn zum Beispiel auf Bundesebene der Eigenanbau verboten wird.

MED: Und was würde all dies für das medizinische Cannabis bedeuten?

DC: Die medizinische Forschung wird auf jeden Fall von der Legalisierung profitieren. Für Ärzte und Forscher wird Cannabis leicht erhältlich sein und sie werden direkter als bisher mit den Patienten zusammenarbeiten können. Es wird möglich sein, mithilfe einer Krankenversicherung Cannabis zu erhalten und in den Apotheken wird es neue Präparate geben. Eine bundesweite Legalisierung könnte dem Cannabis, als traditionellem botanischen Produkt und auch in der Pharmazie, den Weg ebnen.

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