„Studien sagen uns nicht alles“

Interview mit dem slowenischen Biologen Gregor Zorn

Die Informationsvermittlung an ÄrztInnen und PatientInnen ist entscheidend, wenn man medizinisches Cannabis verfügbar machen will – das ist die Grundidee, warum Gregor Zorn Cannabistherapieberater wurde. Er ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der European Cannabinoid Therapy Association (ECTA) und gibt Kurse zu medizinischem Cannabis an der Universität von Padua.

 

Medijuana: Wie sind Sie als Biologe auf die therapeutische Wirkung von Cannabis aufmerksam geworden?

Gregor Zorn: Bevor ich anfing, mich auf diesem Gebiet zu betätigen, interessierte ich mich für die Rolle der Ernährung in der Gesundheit und habe dieses Fach auch gelehrt. Ich habe 2014 an einer Konferenz in Ljubljana über medizinisches Cannabis teilgenommen. Damals wusste ich noch nichts über das therapeutische Potenzial von Cannabis, also begann ich es als Biologe zu untersuchen und fand viele Forschungen und Studien darüber, wie medizinisches Cannabis bei der Gesunderhaltung helfen kann. Es gibt jeden Tag neue Studien – vielleicht ist Cannabis Sativa die am besten untersuchte Pflanze der Welt! Viele Jahre lang wollte die Wissenschaft die schädlichen Auswirkungen von THC auf unsere Gesundheit nachweisen, aber schließlich wurde das genaue Gegenteil bewiesen: Es stellte sich heraus, dass nicht nur THC, sondern auch andere Cannabinoide sehr nützlich für unsere Gesundheit sein können. Es war faszinierend, diese neue Welt zu entdecken, und es öffnete mir auch die Augen, denn ich gehörte zu den Menschen, die an die Anti-Cannabis-Propaganda glaubten. Aber in der Tat habe ich etwas ganz anderes gefunden.

MED: War es der überwältigende Beweis für die positiven gesundheitlichen Auswirkungen, der Sie dazu veranlasste, Ihr Wissen in diesem Bereich zu vertiefen?

GZ: Ja, aber ich würde immer noch nicht sagen, dass die Beweise überwältigend sind. Aufgrund des Verbots ist es immer noch sehr schwierig, die gesundheitlichen Auswirkungen von Cannabis auf den Menschen zu untersuchen anstatt auf Zellkulturen oder Tiere. Nehmen wir das Beispiel Krebs: Es wurden so viele verschiedene Krebsarten an Zellkulturen und Tiermodellen erforscht, aber es gab nur wenige Cannabis-Forschungen an Krebspatienten. Es ist schwer zu verstehen, warum in einem so wichtigen Bereich nur so wenige Studien am Menschen durchgeführt wurden. Ohne ausreichende Forschungen wird die Wissenschaft behaupten, dass es an Beweisen für ihre Anwendung mangelt und dass Ärzte sie daher nicht verschreiben. Aber andererseits waren es die positiven Effekte, die meine Aufmerksamkeit auf Cannabis lenkten, denn ich konnte die Ergebnisse bei Patienten sehen.

MED: Sie hielten einen Vortrag auf der Konferenz Cannabicum 2018 über das Endocannabinoidsystem. Können Sie uns kurz die Bedeutung dieses Systems erläutern?

GZ: Das Endocannabinoidsystem ist in uns allen vorhanden und spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in unserem Körper, damit er effizient funktioniert. Es reguliert andere wirklich wichtige Systeme wie das Fortpflanzungssystem, das Nervensystem oder das Immunsystem. Wir wissen, dass das Immunsystem eine wichtige Rolle bei der Prävention von Krankheiten spielt. Die meisten Krankheiten treten auf, wenn etwas in unserem Körper fehlt oder etwas zu viel ist und damit ein Ungleichgewicht entsteht. Falls wir nicht genügend Endocannabinoide (innere Cannabinoide) haben, können wir einige pflanzliche Cannabinoide aus Cannabis hinzufügen, um das Gleichgewicht zu erhalten.

MED: Woher wissen wir, ob wir zu wenige oder zu viele Endocannabinoide haben?

GZ: Einige Studien haben gezeigt, dass bei bestimmten Krankheiten ein Mangel an Endocannabinoiden besteht. Auch kann es Probleme mit der Funktion der Rezeptoren oder der Enzyme geben, wo die Gabe von Cannabinoiden ebenfalls von Vorteil sein kann. Im Moment ist schwer zu erkennen, ob wir zu viele oder zu wenige Endocannabinoide haben, denn sie werden produziert, wenn wir sie brauchen, und dann werden sie schnell abgebaut. Aber die pflanzlichen Cannabinoide werden langsamer abgebaut, sodass sie länger in unserem Körper aktiv sind.

MED: Treten bei einem Mangel an Endocannabinoiden typische Symptome oder Krankheiten auf?

GZ: Ethan Russo hat eine Theorie über den klinischen Endocannabinoidmangel aufgestellt: Es gibt einige Krankheiten wie Migräne, Fibromyalgie oder das Reizdarmsyndrom (IBS). Diese Krankheiten treten oft zusammen auf und es zeigt sich, dass sie vor allem dann auftreten, wenn es an Endocannabinoiden mangelt. Durch die Gabe von pflanzlichen Cannabinoiden können die Symptome dieser Krankheiten gut reduziert werden. Pflanzliche Cannabinoide tragen auch dazu bei, die Auswirkungen der Toxine, die wir Tag für Tag zu uns nehmen – durch Ernährung, Kosmetik oder sogar durch WLAN – zu reduzieren. Hier kann Cannabis Krankheiten vorbeugen. Vor achtzig Jahren war Cannabis Teil der Nahrungskette, da haben wir die pflanzlichen Cannabinoide genutzt und das Gleichgewicht gehalten. Jetzt, da wir in unserem täglichen Leben kein Cannabis zu uns nehmen, und mit dem steigenden Gehalt an Giftstoffen, brauchen wir die pflanzlichen Cannabinoide sogar noch mehr.

cannabicum 2018

MED: Wie könnte man anfangen, Cannabinoide in seine tägliche Ernährung aufzunehmen?

GZ: Zuerst kommt es darauf an, ob die Person gesund oder krank ist. Gesunde Menschen können die entzündungshemmende und antioxidative Wirkung der Cannabinoide gut zur Vorbeugung nutzen. Bei Krankheiten ist ein anderer Fokus erforderlich. Wir müssen die Art der Krankheit kennen und wissen, was die Person erreichen will. Studien können nicht immer sagen, welche Cannabinoide in welcher Menge für einen bestimmten Zustand geeignet sind. Aber ein guter Ausgangspunkt ist es, zu beobachten, wie andere Patienten auf Cannabinoide reagieren. Wenn zum Beispiel ein bestimmtes Verhältnis und eine bestimmte Menge 70 Prozent der Menschen mit Multipler Sklerose geholfen haben, kann es auch in meinem Fall funktionieren. Die Studien sagen uns jedoch nicht alles – wir müssen auch den Patienten zuhören.

MED: Glauben Sie nicht, dass es für die meisten Ärzte einfacher ist, eine bestimmte Pille zu verschreiben, als mit verschiedenen Verhältnissen und Mengen an Cannabinoiden zu experimentieren?

GZ: Es ist viel einfacher, aber wir müssen die Nebenwirkungen dieser Pillen berücksichtigen und uns fragen, ob sie helfen, die Krankheit zu bekämpfen, oder nur die Symptome reduzieren. Und neben der Aufklärung der Ärzte müssen wir auch die Patienten aufklären. Jeder sollte die Wahl haben. Die meisten Patienten wissen nicht einmal, dass sie eine Wahl haben könnten. Die Ärzte müssen uns dienen und nicht umgekehrt. Nicht jeder Arzt muss Cannabis verschreiben – es genügt, wenn es Spezialisten gibt, die das tun.

MED: Was sind Ihre Erfahrungen mit Ärzten während Ihrer Aufklärungs- und Beratungsarbeit? Sind sie bereit, Cannabis zu verschreiben, wenn sie die Chance dazu haben?

GZ: Ja, das sind sie, sobald sie die rechtliche Sicherheit haben, es zu tun. Die jüngeren Ärzte sind sehr begeistert vom medizinischen Potenzial des Cannabis, besonders wenn sie die Erfolge bei den Patienten sehen – das ist der Punkt, an dem sie anfangen zu glauben. Und wir brauchen diese Ärzte, denn die meisten Patienten vertrauen immer noch dem weißen Kittel, es ist immer noch eine Autorität, von der sie sich beraten lassen wollen. Aber es gibt Mütter und Väter, die alles tun würden, um ihrem kranken Kind zu helfen. Sie sind die wahren Macher und erreichen schließlich die Gesetzesänderungen, wie zum Beispiel in Großbritannien geschehen. Sie haben eine große Macht, die dazu beitragen kann, die Einstellung zu Cannabis zu verändern.

 

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