Mit den Augen eines Erwachsenen in die Kindheit

Über Dr. Gabor Matés Ayahuasca-Therapie

Zum Erscheinen der ungarischen Ausgabe von Scattered Minds, seinem Buch über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS), besuchte Dr. Gabor Maté Budapest. Auf der Veranstaltung PsychoAktivität konnten ihn die an der psychedelischen Kultur Interessierten zu ihrer großen Freude über die Ayahuasca-Therapie und die auf diesem Gebiet gesammelten Erfahrungen befragen.

Ende der 1990er Jahre machte ein Buch über die therapeutische Nutzung von LSD des in Vancouver lebenden ungarischen Psychotherapeuten András Feldmár Furore. Das aus Vorträgen entstandene Rainbow of States of Consciousness wurde innerhalb kürzester Zeit ein Hauptwerk der psychedelischen Kultur. Feldmár fand sich bald in der Rolle des LSD-Gurus wieder und präsentierte seine radikal erscheinenden Ansichten über die positiven seelischen Aspekte von psychedelischen Trips auf zahlreichen Vorträgen vor vollem Haus. Nach der Jahrtausendwende ließ der Hype um die Halluzinogene beträchtlich nach. Feldmár begann, sich für andere Themen zu interessieren und statt über Trips, hielt er lieber Vorträge über Liebe, Mut, Angst oder Tod. Doch die Geschichte wiederholt sich. Ein zweiter in Vancouver lebender und praktizierender Arzt und Therapeut tauchte auf, der, ausgehend von der Behandlung von Kindheitstraumata, das Potenzial entdeckte, das die Psychedelika in sich bergen. Dr. Gabor Maté besuchte Ungarn anlässlich des Erscheinens seines Buches über das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und berichtete über seine Erfahrungen mit Psychedelika.

Traumatrip

Das Interesse übertraf alle Erwartungen – die Hörer drängten sich dicht an dicht. Eine Gruppe von dreißig Leuten setzte sich, da sie keine andere Möglichkeit sah, auf die Bühne, andere drängten sich in den Eingangstüren, und trotzdem mussten viele draußen bleiben. Péter Sárosi, der Leiter des drogenpolitischen Programms der HCLU (Hungarian Civil Liberties Union) fragte zunächst nach Matés Verhältnis zu Feldmár. Nach der Antwort zu urteilen, war es kein besonders harmonisches. Maté formulierte etwas schwammig, dass sie zu 90 % übereinstimmten, die 10 % Meinungsunterschied zwischen ihnen aber genau die wesentlichen Fragen beträfen. Nach diesem boulevardmäßigen Auftakt sprach er darüber, warum man Krankheiten nicht vom Bewusstsein trennen und nur als Funktionsstörung des Körpers behandeln dürfe. Kurz darauf kam er zu dem Grundgedanken, der sich durch all seine Werke zieht – zu den Kindheitstraumata, die seiner Meinung nach die Hauptursache der schweren Krankheiten und Abhängigkeiten in der späteren Lebensphase sind. Nach Matés Auffassung versuchen die meisten Suchtkranken, sich mit den Drogen selbst zu heilen, gelangen aber nur bis zur Therapie der Symptome und verfallen außerdem der Droge. Der Arzt beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Suchtkranken und seine Theorie reifte, als die Psychedelika an seine Tür klopften. Nach seinen Erinnerungen begann alles damit, dass immer mehr Leute seine Meinung zur Therapie mit der Pflanze Ayahuasca wissen wollten, welche ihm damals kein Begriff war. Die Fragen nahmen kein Ende, und in ihm reifte der Entschluss, sich einweihen zu lassen. Bei der Zeremonie unter Leitung peruanischer Schamanen trank er zusammen mit vierzig Reisegefährten Ayahuasca. Der Gesang der Schamanen – von dem er kein Wort verstand – und die ganze Zeremonie spielten eine ebenso wichtige Rolle bei diesem Erlebnis wie das scheußlich schmeckende Ayahuasca. Eine Stunde nachdem er das Gebräu zu sich genommen hatte, liefen ihm Tränen über das Gesicht, öffnete sich sein Herz und er spürte grenzenlose Liebe. Zum Verständnis der Geschichte erzählte Maté von seiner eigenen traumatischen Kindheit, von den Verletzungen, die er im Alter von ein bis zwei Jahren im Budapester Ghetto erlitten hatte und die nach seinem Empfinden bis zum heutigen Tage seine Persönlichkeit grundlegend beeinflussten. Erst als Erwachsener erfuhr er, dass seine Mutter gezwungen gewesen war, ihn aus Sicherheitsgründen ein paar Wochen bei einer anderen Frau unterzubringen, was er als Kleinkind als Liebesentzug erlebt haben musste. Er hat den Verdacht, dass er deshalb, nachdem er Liebe empfangen hat, immer mit Schmerzerfahrung rechne. Unter der Wirkung von Ayahuasca verflogen die Schwierigkeiten im Erleben von Liebe mit einem Mal und er verstand, dass er sein ganzes Leben lang vor der Liebe geflohen war, obwohl er sie immer in sich trug. Maté meint, die Heilung bestehe darin, mit den Augen eines Erwachsenen in die eigene Kindheit zu schauen und die erlittenen Traumata zu verstehen. So wie es ihm ergangen war. Natürlich sind die Erfahrungen von Person zu Person andere, aber mit einer entsprechend geleiteten Ayahuasca-Reise würde jeder mit den für ihn grundlegenden Gebieten konfrontiert und könne verstehen, woran er arbeiten muss, um gesund zu werden.

Therapeut im Underground

Mit der Verbreitung seiner Erfahrungen und seiner Teilnahme an Ayahuasca-Sitzungen verwandelte sich Gabor Maté langsam in einen Guru. Der kanadische Sender CBC brachte einen Dokumentarfilm, in dem Maté das Ayahuasca vorstellt und über die Therapien an seiner Person und seine Erfahrungen spricht. Nach der Ausstrahlung des Films suchte ihn der oberste staatliche Gesundheitsbeauftragte auf und bat ihn, die Experimente mit illegalen Mitteln aufzugeben. Das versprach der Arzt auch – aber wie er betonte, versprach er es nur – und setzte seine Therapie im Untergrund fort. Hinsichtlich der Forschungen zu Ayahuasca sagte Maté, dass sie ihn nicht sonderlich interessierten, da er schon vor Jahren das therapeutische Potenzial erkannt habe, das in ihm steckt, was auch die Ergebnisse seiner Therapien belegten. Physisch ist das Ayahuasca für den Menschen überhaupt nicht gefährlich. Seiner Meinung nach sollten lediglich Menschen, die an bestimmten mentalen Krankheiten leiden, den Gebrauch meiden. Vergebens hätte man eine solch wirksame Medizin zur Hand, wenn die Politiker das Unbekannte fürchteten und sich nicht trauten, die Therapie zu genehmigen. Auf der anderen Seite hänge die Mehrheit der Ärzte an den gewohnten Heilmethoden, die oft zu einer jahrelangen Medikation führten. Ein weiteres Problem bestehe darin, dass sich die Wirkungen des Ayahuasca nicht unter objektiven (Labor)Bedingungen untersuchen ließen, weil einerseits jedes Ayahuasca-Getränk die Substanzen in immer ein wenig unterschiedlichen Anteilen enthalte und daher die Dosierung schwanke. Andererseits könne man den Schamanengesang, der ein Grundelement der Therapie darstelle, nun wirklich nicht unter das Mikroskop legen. Wenn aber die rituellen Elemente der Ayahuasca-Zeremonie weggenommen und das Originalgebräu durch einen Extrakt von genauer Dosierung ersetzt werden würde, das der Patient in einem geschlossenen Raum unter den beobachtenden Blicken der Fachärzte einnähme, dann würden radikal andere Wirkungen hervortreten, die absolut nicht günstig für die Heilung wären.

Daher beschloss Dr. Maté, nicht länger zu warten, bis die Wissenschaft es gutheißt, sondern seine eigene Ayahuasca-Praxis aufzunehmen und zwar dergestalt, dass er sich mit mehreren Teilnehmern zurückzieht. Die ersten Tage vergehen mit Gesprächen, in welchen die Motive offengelegt werden, die zum Ayahuasca geführt haben und die Absichten, die sich mit ihm verbinden. Dann beginnt der von Schamanen geleitete Trip. Anschließend vergehen ein bis zwei Tage damit, dass die Erlebnisse besprochen und weiterführende Pläne zu einer dauerhaften Besserung der Lebensqualität geschmiedet werden. Auf Befragen sagte er, dass seiner Meinung nach eine entsprechend überwachte Therapie mit LSD, Zauberpilzen oder Meskalin genauso tauglich zu einer Therapie sein könne wie das Ayahuasca, und er mache keinen Hehl daraus, dass er nach dem Ayahuasca-Erlebnis auch andere Psychedelika gekostet habe, die seine Sicht der Dinge erweitert hätten. Wie vertrauen darauf, dass er uns – nach den großartigen Büchern über die Krankheiten – mit einer Lektüre über die psychedelische Therapie fesseln wird.

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