Krieg gegen uns selbst

Zum Gedenken an Ronald Siegel

Zur menschlichen Natur gehört auch das Verlangen nach Veränderung des Bewusstseinszustands. Wenn wir den Drogen den Krieg erklären, verleugnen wir unser eigenes Wesen, behauptete Ronald Siegel, der kürzlich verstorbene Professor für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaft der Universität von Kalifornien.

 

Ronald K. Siegel wurde 1943 in New York geboren. Er studierte unter anderem an der Brandeis University, der Harvard Medical School, der Dalhousie University und dem Albert Einstein College of Medicine. Als junger Forscher wurde er mit der Aussage konfrontiert, dass der Mensch das einzige Wesen sei, das Drogen zum Genuss konsumiere. Mit dieser Ansicht stimmte er von Anfang an nicht überein, und mit der Zeit entwickelte sich die Suche nach Gegenbeispielen zu seiner Leidenschaft.

 

Von Mungos, die einen Trip werfen, bis hin zu Opium konsumierenden Wasserbüffeln

Siegel war der Meinung, dass der Trieb nach Bewusstseinsveränderung nicht nur beim Menschen, sondern auch im Tierreich zu finden sei. Hier seien ebenfalls die verschiedenen Ziele des Konsums – die Suche nach Rausch, Selbstheilung bei Verlust oder Trauma sowie psychedelischen Erfahrungen – zu beobachten. Auf Hawaii pflanzte Siegel in der Nähe der Behausungen von Mungos Prunkwinden, deren Samen einen Stoff mit psychedelischer Wirkung (LSA) enthalten, der dem LSD ähnelt. Die Tierchen probierten es aus, augenscheinlich behagte ihnen die Wirkung der Samen nicht und daher beschäftigten sie sich nicht weiter mit Ihnen. Einige Zeit später, nachdem ein Tropensturm ihre Behausung zerstört und einige von ihnen getötet hatte, nahmen die Überlebenden allerdings Samen zu sich. Siegel ist der Meinung, dass sie sich damit von ihren Gedanken und Schmerzen befreien wollten. Eine ähnliche Motivation könnte vietnamesische Wasserbüffel, die lange Zeit die nahen Opiumfelder gemieden hatten, dazu veranlasst haben, Opium zu konsumieren. Sie waren, verursacht durch ein Bombardement der Amerikaner, in Panik geraten und mussten ihr gewohntes Territorium verlassen. Bienen hingegen konsumieren offensichtlich aus reinem Vergnügen den Nektar einiger berauschender Orchideenarten. Kaum wieder nüchtern, wiederholen sie den Vorgang. Bei Katzen kann man keine plausible Erklärung dafür finden, warum sie sich an Katzenminze berauschen und dann mit imaginären Dingen spielen. Bei Affen wurde beobachtet, dass sie, ähnlich wie wir Menschen, Zauberpilze zur Bewusstseinserweiterung zu sich nehmen. Unter ihrer Wirkung stützen sie den Kopf in ihre Hände und gleichen dann dem Denker von Rodin. In Siegels Sichtweise sind auch Tiere fühlende und denkende Wesen, die – ähnlich wie wir – mit biochemischen Hilfsmitteln versuchen, ihre Schmerzen zu lindern oder Rauschzustände hervorzurufen.

 

Bewusstseinsveränderung ist ein Grundbedürfnis

Erwartungsgemäß widerlegte Siegel nach zahlreichen Untersuchungen schließlich die Ausgangshypothese und verkündete, dass „fast jede Tierart nach natürlichen Narkotika sucht“. Ganz besonders treffe das auf den Menschen, das komplexeste Wesen, zu. Sein reges Interesse daran beruhe auf einem Kindheitserlebnis, einer Narkose beim Zahnarzt mit Lachgas, die ihn zu dahin unbekannten Bewusstseinszuständen geführt hatte. Mit diesem Gas beschäftigte sich auch William James, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts. Dieser schlussfolgerte, dass „das sogenannte rationale Bewusstsein nur eine spezielle Art des Bewusstseins ist, und nur ein dünnes Häutchen trennt es von dem umgebenden vollkommen abweichenden, potenziellen Ausformungen von Bewusstsein.“ Siegel selbst konsumierte nur wenige Drogen – seine Lieblingsdroge war das Koffein – aber er fand immer leicht Freiwillige für seine Forschungen, was seine These ebenfalls untermauerte. Neben seinen Versuchen mit Tieren studierte Siegel an diesen Freiwilligen die Wirkung von Cannabis, THC, LSD, Ketamin, Psilocybin und Mescalin auf das menschliche Verhalten. Außerdem untersuchte er die Menschheitsgeschichte daraufhin, wie sich Drogen auf die Kultur, die persönliche Lebensgestaltung und die Entscheidungsfindung auswirken. Belege findet man bereits in der antiken Tradition der Mysterien von Eleusis, dabei konsumierten die TeilnehmerInnen psychedelische Stoffe. Durch unsere gesamte Geschichte zieht sich eine Unmenge weiterer Beispiele, auch von der Bewusstseinserweiterung bei Herrschenden wurde mehrfach berichtet. So gelangte Siegel schließlich zu der Meinung, dass das Verlangen nach einer Bewusstseinsveränderung ein universaler Trieb des Menschen sei. Dieser leite uns mindestens ebenso stark wie Hunger, Durst oder die Sexualität.

Sich über unsere eigene Natur im Klaren sein

Siegels Meinung ist es, dass es gleichgültig sei, ob man Handel und Konsum bestimmter Mittel legalisiert oder nicht. Die Menschen werden weiterhin die für sie nützlichen Drogen konsumieren. Für einen absoluten Irrweg hält er jedoch den Krieg gegen die Drogen, der ein für alle Mal den Handel und Konsum bestimmter Mittel beenden will. In Siegels Augen ist das nichts anderes, als ein Krieg gegen uns selbst, gegen unsere eigene Natur, und ist damit zum Scheitern verurteilt. Seine Ansichten veröffentlichte er erstmals 1998 in „RauschDrogen. Sehnsucht nach dem künstlichen Paradies“, als Erster zu Zeiten des Drogenkrieges. Sein Standpunkt wurde bis heute durch eine Vielzahl neuer Beweise belegt. Als Verhaltenswissenschaftler betrachtete Siegel den Konsum von Rauschmitteln als eine Methode der Selbstheilung. Damit stand er der immer häufiger geäußerten Meinung nahe, dass jeder Cannabiskonsum therapeutisch ist. Seine Ansichten über den menschlichen Drogenkonsum klingen zusammengefasst so: „Sie betreiben Selbstheilung. Sie verändern ihre Stimmung. Sie verändern ihre Gefühle. All das ist legitimer therapeutischer Gebrauch.“ Heute, in den letzten Stunden des Krieges gegen die Drogen, sollte man sich im Klaren darüber sein, welche Schäden dieser den therapeutischen KonsumentInnen in den vergangenen 60 Jahren zugefügt hat. Es ist daher unumgänglich, sich Siegels Schriften wieder vorzunehmen.

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