Knock-out für das Selbstbewusstsein

Der Hintergrund des Phänomens Spice

Über die seit gut zehn Jahren hergestellten synthetischen Cannabinoide (Spice oder synthetisches Cannabis) wissen wir heute mehr als zu Beginn dieser Entwicklung. Inzwischen ist klar, dass Spice wesentlich gefährlicher ist als das Naturprodukt und sein Konsum bei Weitem nicht so viel Vergnügen bereitet. Warum konsumieren immer noch viele Menschen synthetische Cannabinoide?

In den Medien finden wir von Zeit zu Zeit erschreckende Bilder und Videos, auf denen uns „Zombies“ mit leerem Gesichtsausdruck entgegenblicken, auf der Straße hocken oder auf Bänken liegen. Auf diesen Bildern wird oft das Milieu obdachloser Alkoholiker und Schnüffler heraufbeschworen, nur ist das Durchschnittsalter der ProtagonistInnen viel geringer. Nach den Erkenntnissen der Ursachenforschung ist diese Parallele realistisch. Die Verbreitung des Spice-Konsums ist ein guter Vergleichspegel für die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten einer Gesellschaft. Fast immer ist er in der ärmeren Schicht verbreitet.

Trotz Verbots in Freiheit

Die neuesten Warnungen stammen aus Großbritannien. Dort wurden im Mai 2016 fast alle psychoaktiven Chemikalien auf eine Verbotsliste gesetzt. Die Maßnahme richtete sich in erster Linie gegen neue Mittel, die sogenannten Designerdrogen, aber auch gegen das in Schaumpatronen verwendete Lachgas (N2O). Ebenso wurden seit Jahrhunderten verwendete Pflanzen wie Aztekensalbei (Salvia divinorum) und Kratom auf die Liste gesetzt. Drei Monate später verkündete die Regierung voller Freude, dass 186 Dealer festgesetzt worden seien, 308 Geschäfte den Handel mit Spice eingestellt hätten und 24 Geschäfte endgültig geschlossen worden seien. „Das Gesetz über psychoaktive Mittel formuliert eine klare Botschaft – diese Regierung wird alles daransetzen, damit unsere Familien und unsere Gemeinschaft sich in Sicherheit wiegen können“, sagte Ministerin Sarah Newton.

Doch die synthetischen Cannabinoide ließen sich nicht zurückdrängen. Das Gesetz bewirkte genau das, was wir im Verlauf des Krieges gegen die Drogen schon so oft beobachten konnten – Spice gelangte in die Hände der Schwarzhändler und von nun an versorgen sie die unteren Gesellschaftsschichten. Seitdem geben weder Markennamen noch Verpackung den KonsumentInnen Aufschluss darüber, was sie sich besorgt haben, und genau das steigert die Unberechenbarkeit der Wirkung und die gesundheitlichen Risiken. Rick Bradley, Leiter von Addaction, einer Organisation, die DrogenkonsumentInnen Behandlungen anbietet, sagt dazu: „Man kann nur sehr wenig Positives über die Wirkung der synthetischen Cannabinoide sagen. Die Risikogruppen benutzen sie weiter und es ist ihnen gleichgültig, dass sie ein illegales Mittel konsumieren. Man kann absolut nicht von einem Erfolg sprechen.“

Britische Medien brachten im April eine Serie über einen Stadtteil von Manchester, in dem jüngere Obdachlose unter schrecklichen Bedingungen ihr Leben fristen. Sie weisen die charakteristischen Symptome des Gebrauchs von synthetischem Cannabis auf und werden nach und nach von SanitäterInnen eingesammelt. Im Gegensatz zu Marihuana aktiviert Spice das innere Cannabinoidsystem des Hirns nicht nur, sondern überreizt es. Daher kann der Konsum leicht zu Unwohlsein, Ohnmacht, epileptischen Zuckungen bzw. aggressivem Verhalten und Psychosen führen. Zudem führt der Abbruch einer mehrmonatigen regelmäßigen Einnahme zu starken Entzugserscheinungen. Dieser Gebrauch mit K.o.-Wirkung zeigt an, dass die KonsumentInnen keine leichte Entspannung, gehobene Stimmung oder kreative Gedanken anstreben, sondern wenigstens vorübergehend aus ihrer Umgebung heraustreten wollen und im Allgemeinen auch aus sich selbst. Ungefähr wie beim Alkoholmissbrauch oder beim Schnüffeln von Lösungsmitteln. Es ist keineswegs überraschend, dass die regelmäßigen KonsumentInnen von synthetischen Cannabinoiden vorwiegend Arme und Obdachlose sind, die keine positiven Erwartungen für die Zukunft hegen können.

Irgendwo in Osteuropa

Für den Drogengebrauch in Verbindung mit Armut finden wir Beispiele in zahlreichen Ländern Europas, aber in Verbindung mit Spice liegen Mittel- und Osteuropa weit vorne. In Polen, Rumänien und Bulgarien finden wir Spitzenwerte beim Konsum von synthetischem Cannabis durch Teenager. In Ungarn hat sich nach übereinstimmenden Berichten von SoziologInnen und Medien in zahlreichen verarmten Dörfern der Gebrauch von synthetischen Cannabinoiden verbreitet, wo früher überhaupt keine illegalen Mittel benutzt wurden. Dies belegt, dass es oft keine Überlappung bei den KonsumentInnen von natürlichem und synthetischem Gras gibt. In einer dieser Gemeinden sagten die KonsumentInnen, dass sie vom Alkohol auf diese Mittel umgestiegen seien oder sie kombinierten. Die Funktion der eingenommenen Substanzen aber bleibt die gleiche – das Bewusstsein k.o. schlagen, zeitweilig aus der hoffnungslosen Dorfwelt aussteigen, wo es weder einen Park, einen Spielplatz oder einen Fußballplatz gibt, geschweige denn ein Kino, ein Fitnessstudio oder irgendeine Möglichkeit der Freizeitgestaltung.

Wenn die BewohnerInnen dieser Dörfer arbeitslos sind, haben sie überhaupt keine Chance, diesem Milieu zu entkommen. Auch nicht, ihre einsturzgefährdeten Häuser – in denen ein oder zwei Generationen zusammenleben – zu renovieren und sicherer zu machen. Im Rauchen des synthetischen Cannabis finden sie kein Vergnügen, halten es aber dennoch für besser, als mit klarem Kopf ihr trostloses Leben zu ertragen. Nicht anders ist es bei den 10- bis 15-Jährigen, die genau diesen Weg gehen, weil sie nichts in ihrer Umgebung finden, das sie motivieren würde oder womit sie sich entspannen könnten. Obwohl jeder im Dorf genau weiß, wer die Händler dieser Drogen sind, und obwohl ihnen die Polizei von Zeit zu Zeit vergeblich einen Besuch abstattet, ändert sich seit Jahren nichts. Die sensationsgierige Aufbereitung dieser Situation in den Medien, das Abstempeln der Betroffenen als „Zombies“ treibt nur die moralische Verurteilung und die Stigmatisierung der abgestiegenen Klasse voran.

 

Nötig ist eine wirkliche Lösung

David Nutt, Drogenspezialist der britischen Regierung, teilte Ende April im Guardian seine Erfahrungen in Bezug auf Spice mit. Seiner Meinung nach sei es ein schwerer Irrtum, vom Verbot zu erwarten, dass es den Konsum zurückdränge. Er gibt zu bedenken, dass es, um eine Schadensmimimierung zu erreichen, besser wäre, weniger risikoreiche Sorten von synthetischem Cannabis oder sogar natürliches Marihuana an dazu eingerichteten Orten zu verkaufen. Den gegenwärtigen BenutzerInnen würde er ein Gegenmittel anbieten, das die Wirkung von Spice lindert oder vollkommen blockiert. Solche Gegenmittel sind auch in der Cannabispflanze selbst enthalten, zum Beispiel die Verbindung THCV, welche die euphorisierenden Wirkungen des THC (oder den verursachten psychotischen Zustand) ausgleicht. Dies hätte eine Schlüsselfunktion in den Händen der SanitäterInnen und ÄrztInnen beim Zurückdrängen einer Überdosis zur Rettung der Opfer.

Jedoch löst all dies nicht das Problem, dass Menschen, die all ihre Hoffnungen verloren haben, das billigste verfügbare Mittel benutzen, um sich selbst k.o. zu schlagen. Ihnen wäre allein durch die Verringerung der Ungleichheit, durch das Aufzeigen eines Weges aus Arbeitslosigkeit und Armut geholfen. Dazu ist allerdings ein ernsthafter politischer Wille und ein konzertiertes Auftreten nötig. Solange man nur an Verbote und Lösungen innerhalb des Systems denkt, wird das sicher nicht erreichbar sein.

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