Henry David Thoreau: Walden (Zitat)

”Die meisten Männer sind, sogar in diesem verhältnismäßig freien Land, aus purer Unkenntnis und Verblendung von ihren eingebildeten Sorgen und den vielen unnötigen Mühen des Lebens so sehr in Anspruch genommen, dass sie nie dazu kommen, dessen edlere Früchte zu pflücken. Ihre Hände sind von der übermäßigen Plackerei zu schwerfällig und zittrig geworden. Tatsächlich hat der arbeitende Mensch heute nicht mehr die Muße, sein Leben Tag für Tag wirklich sinnvoll zu gestalten. Wahrhaft menschliche Beziehungen zu seinen Mitmenschen kann er sich nicht leisten; es würde den Marktwert seiner Arbeit herabsetzen. Es fehlt ihm an Zeit, etwas anderes zu sein als eine Maschine. […] Manchmal erstaunt mich die Bereitwilligkeit – wenn ich es so nennen darf –, mit der wir uns über jene brutale, aber uns doch eigentlich fremde Form der Zwangsarbeit den Kopf zerbrechen, die Negerversklavung. Dabei gibt es so viele unerbittliche und schikanöse Master, die sowohl den Süden wie den Norden versklaven. Ein Aufseher aus dem Süden ist hart, und einer aus dem Norden ist vielleicht noch schlimmer; am aller schlimmsten aber ist es, Sklaventreiber seiner Selbst zu sein. Redet mir nicht vom Göttlichen im Menschen! Schaut euch doch den Fuhrmann auf der Landstraße an, der tagsüber oder nachts zu Markte fährt. Was regt sich Göttliches in ihm? Als seine höchste Aufgabe betrachtet er es, die Pferde zu füttern und zu tränken. Was ist ihm seine Bestimmung im Vergleich zu dem Erlös aus seiner Fracht? Fährt er nicht im Dienste von Herrn »Tu-dich-um«? […] Wie er sich krümmt und windet, den ganzen Tag in unbestimmten Befürchtungen, weder unsterblich noch göttlich, sondern Sklave und Gefangener seiner Meinung von sich selbst, ein Ruhm, den er sich selbst zuzuschreiben hat. Die öffentliche Meinung ist im Vergleich zu unserer eigenen ein machtloser Tyrann. […] Die ständige Anstrengung und Angst mancher Menschen ist fast eine unheilbare Krankheit geworden. Wir sind geneigt, die Wichtigkeit unserer Arbeit zu überschätzen. Und doch: wie vieles ist ohne unser Zutun geschehen? […] So unbedingt und ausschließlich hängen wir an dem Leben, das wir führen, halten es hoch und erschließen uns jeder Möglichkeit einer Änderung. Das ist der einzige Weg, sagen wir. Aber es gibt so viele Wege, wie wir Radien von einem Mittelpunkt aus ziehen können. Jede Veränderung ist ein Wunder, des Nachdenkens wert, allein es ist ein Wunder, das sich jeden Augenblick vollzieht. Konfuzius sagt: ›Zu wissen, dass wir wissen, was wir wissen, und dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist das wahre Wissen.‹”

 

Henry David Thoreau, amerikanischer Schriftsteller, Dichter und Philosoph des 19. Jahrhunderts, wurde 1817 geboren. Er studierte an der Harvard Universität die griechischen und lateinischen Klassiker, die englischen metaphysischen Dichter sowie die italienische, deutsche, spanische und französische Sprache. Zwischen 1845 und 1847 baute er sich am Ufer des Waldensees eine Hütte, wo er seinen Lebensunterhalt mit Sammeln, Fischen und Pflanzenanbau bestritt, während er den größten Teil seiner Zeit mit Kontemplation, Naturbeobachtung und der Niederschrift seiner Gedanken verbrachte. Die Frucht dieser Zeit ist sein Hauptwerk Walden.

Auch in seinen eigenen Handlungen richtete er sich nach seinen Schriften und Prinzipien. 1846 kam er ins Gefängnis, weil er sich weigerte, den Vereinigten Staaten Steuern zu zahlen, da sie die Sklaverei unterstützten und Mexiko angriffen. Nach Ablauf eines Tages aber beglich ein Wohltäter seine Schulden. Dieses Erlebnis inspirierte ihn zu seinem zweiten bedeutenden Werk mit dem Titel Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, in dem er zum Ausdruck bringt, dass jeder aufgrund des höheren Gesetzes der Moral verpflichtet sei, seine Mitwirkung zu versagen und die dafür verhängte Strafe zu ertragen, wenn der Staat eine ungerechte Politik betreibe. Seine Schriften sind heute noch so aktuell wie damals.

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