Die Mäßigung

Auf der Suche nach einer endlichen Welt in der Unendlichkeit des Bewusstseins

“Die Mäßigung ist dieses Maßhalten, durch das wir Herr über unsere Genüsse bleiben, anstatt zu ihren Sklaven zu werden. Sie ist freier Genuss, der um so lustvoller ist, als er auch seine Freiheit genießt. Wie genussvoll, zu rauchen oder auch darauf verzichten zu können! Zu trinken und nicht vom Alkohol abhängig zu sein! Die Sexualität auszuleben und nicht seinen Trieben hörig zu sein”, schreibt der französische Philosoph André Comte-Sponville in seinem Werk Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Aber hat denn die Enthaltsamkeit in der modernen Konsumwelt, die auf ständig unbefriedigten Bedürfnissen basiert, überhaupt einen Sinn?

Schriften der antiken und christlichen Philosophie über die Mäßigung füllen ganze Bibliotheken. Darin wird die Mäßigung als wichtigste der menschlichen Tugenden bezeichnet und der mäßige Mensch als herausragendes Beispiel für die Gemeinschaft hingestellt. Einer der Gründe dafür ist, dass in den vergangenen Jahrhunderten den Massen ein Konsum in einem ähnlichen Maße wie heute unerreichbar war. Auch konnten die Wasservorräte leicht verunreinigt werden – durch Anschläge oder Unvorsichtigkeit – daher tranken die Griechen im Altertum an den Wochentagen verdünnten und nur an den Feiertagen reinen Wein. Trotzdem wurde der Alkoholismus keine Volkskrankheit, denn die Mäßigung war eine der sieben Kardinaltugenden!

Für Aristoteles, einen Vertreter der Tugendethik, dessen Werk vielleicht die größte Wirkung hatte und auf den man sich bis zum heutigen Tage oft beruft, war die Mäßigung die wichtigste Tugend, welche sich in jeder unsrer Handlungen widerspiegeln müsse. Der mäßige Mensch enthält sich – im Gegensatz zum allgemeinen Glauben – nicht der Freuden des Lebens, sondern nur der extremen, übertriebenen Genüsse. Der mäßige Mensch im Sinne Aristoteles, bevorzugt Genüsse, die der Gesundheit nicht schaden, der von ihm vertretenen “moralischen Schönheit” nicht entgegenstehen und keine übertriebenen materiellen Aufwendungen erfordern.

Anderthalb Jahrhunderte später versuchte der heilige Thomas von Aquin, die aristotelischen Gedanken mit der Kirchenlehre in Einklang zu bringen. Sein Unterfangen wird noch heute als Gipfel der scholastischen Philosophie betrachtet, welches in der christlichen Auffassung die Position der Tugenden stärkte. Thomas von Aquin rechnete die Mäßigung den vier Kardinaltugenden zu, die “zwar nicht so hochrangig ist wie die anderen drei (die Klugheit ist notwendiger, die Tapferkeit und die Gerechtigkeit sind bewundernswerter), übersteigt sie aber an Schwierigkeit”, schrieb er.

Aristoteles und Thomas von Aquin betrachteten die Mäßigung als eine Tugend, in der der Wille des Menschen eine bedeutende Rolle spiele, im Gegensatz zu Tugenden wie der Klugheit, wo sich der Wille weniger manifestiere. Schenken wir den beiden Denkern Glauben, dann werden die Grundlagen der mäßigen Lebensweise in der Erziehung gelegt, sind also erlernbar. Es ist also von einer Tugend die Rede, die man üben kann.

Fraglich ist jedoch, wie die Idee der Mäßigung, die sich auf den Glauben an den Kosmos (Aristoteles) und den allmächtigen Gott (Thomas von Aquin) gründet, für einen modernen Menschen, der zu einem Glauben an die grenzenlose wirtschaftliche und technologische Entwicklung übergegangen ist und in der moralischen Vielfalt einer globalisierten Gesellschaft aufwächst, die auf unendlichen Konsum baut, aktualisiert werden kann. Hat die Mäßigung überhaupt noch etwas in unserer Epoche zu suchen?

Viele teilen den Glauben der Aufklärung, dass die gegenwärtige Welt die beste aller möglichen Welten sei und dass der Mensch in der Lage sei, vermittels seines Verstandes das Wesen der Dinge und deren Zusammenhänge zu sehen. Andere sind der Ansicht, diese Annahme der Aufklärung sei falsch, demzufolge seien auch ihre Folgerungen und ihre Ergebnisse falsch. Also wäre alles zu verwerfen, was diesem Gedanken entspringt. Das System zum Beispiel, das den Konsum stimuliert, überall Steigerung, Übermaß und Unmäßigkeit verkündet, könne nicht funktionieren. Das gesellschaftliche und ökonomische System, das sich aus den Idealen der Aufklärung entwickelte, das liberale bürgerliche Wertesystem und dessen gesellschaftliche und wirtschaftliche Errungenschaften seien irreparabel und demnach en bloc abzulehnen. Man müsse also zu einem früheren Ausgangspunkt zurückkehren.

Wieder andere meinen, das Problem sei nicht die Welt oder das System. Im übermäßigen Konsum und im Übermaß sei nur die Frustration des spätmodernen Menschen zu sehen. Wegen der unglaublich großen Zahl der zur Verfügung stehenden Alternativen sei es ihm unmöglich, die für ihn beste Lösung oder Möglichkeit zu wählen. Ja, er sei nicht einmal in der Lage, das gesamte Angebot (sämtliche mögliche Alternativen) zu überblicken. Da jedoch sein genetischer Code ihn treibe, die für ihn beste Alternative zu finden, würde er damit konfrontiert, dass dies unmöglich ist und er geräte in Konflikt mit sich selbst. Seine Frustration in dieser Lage sei also ebenso natürlich wie seine erste Reaktion, der übermäßige Konsum.

Der bewusste Mensch sucht instinktiv den aristotelischen Ausgangspunkt, um nicht in Extremen, sondern im Mittelwert denken zu können. Ob vom Essen, Trinken, Rauchen, Sexualität, Leibesübungen oder gar vom Streit die Rede ist – es ist praktisch, bei allem Maß zu halten!

In vielen Fällen erwarten jene, die die Tugend der Mäßigung missverstehen, vollkommene Enthaltsamkeit, eine Art Askese, von sich und anderen. Schon die geringste Abweichung würden sie streng bestrafen. Sie akzeptieren nicht, dass der Mensch in der Lage ist, sich selbst zu mäßigen, dass er vermittels seines Verstandes zu der Einsicht gelangen kann, dass der übermäßige Konsum (obwohl er ihn als Symptom behandelt) die anfängliche Frustration nicht beenden wird. Darauf sei nur die Mäßigung die entsprechende Antwort.

Wenn wir unsere alltäglichen Entscheidungen treffen – von gut wahrnehmbaren Interessen gelenkt – verwirklichen wir diese Mäßigung in vielen Fällen, zum Beispiel beim mäßigen Konsum. Es wäre daher anzunehmen, dass dies überall und immer möglich ist. Denn nicht das Umfeld des Konsums oder sein Objekt, sondern einzig und allein der Konsument bestimmt, ob er maßvoll ist oder nicht. Das ist auch dann der Fall, wenn wir wegen unserer individuellen Ängste, aus Mangel an Erfahrung oder Interesselosigkeit in Verbindung mit gewissen Dingen selbst nicht wissen, ob wir es umsetzen wollen.

Tatsache ist, dass der in der Antike und im Mittelalter noch präsente Mäßigkeitskultus in der Moderne durch das Autonomiebedürfnis zerstört wurde. An die Stelle des Verhältnisses zum Kosmos oder zum christlichen Gott trat der Mensch, der sich selbst zum Maß machte, schrieb der österreichische Philosoph H. Ottmann über den Begriff des Maßes in der Moderne. Die Autonomiebestrebungen, die mit der Aufklärung, zum Schaden der Natur, eingesetzt hatten, trügen von vornherein das Problem der Maßlosigkeit in sich, was man seiner Ansicht nach im Rahmen des gegenwärtigen Denkens prinzipiell als unlösbaren Konflikt betrachten müsse.

Soll das nun bedeuteten, dass wir von vornherein jeden Versuch ablehnen müssen, in der modernen Konsumgesellschaft das antike Ideal der Mäßigkeit zu verwirklichen oder es zu verbreiten? Oder bringt eben gerade das erwähnte Erlebnis der Autonomie oder das Streben danach auch die Daseinsberechtigung dieses Experiments mit sich?

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