Cannabis gegen Krebs
Medizinisches Cannabis ist unsere gemeinsame Sache
Kurz vor der Mary Jane haben wir uns mit Dr. Franjo Grotenhermen in Berlin zu einem Interview verabredet. Wir wollten die Gelegenheit nutzen, um mit dieser Koryphäe im Bereich der Cannabismedizin über seine Erfahrungen als Arzt, über die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, aber auch über sein neues Buch „Cannabis gegen Krebs“ zu sprechen.
Medijuana: Mittlerweile ist es 20 Jahre her, dass Sie die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin gegründet haben – welcher Grundgedanke stand hinter der Gründung und was sind die Errungenschaften der letzten 20 Jahre?
Dr. Franjo Grotenhermen: Also der Gedanke war ganz einfach: Es gab eigentlich keine Organisation in Deutschland, die sich effektiv für Cannabis als Medizin eingesetzt hat, und deshalb wollten wir einfach eine Organisation gründen, die sowohl Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, also Ärzte und Apotheker, aber auch Patienten und Juristen zusammenbringt. Um dann einfach zu schauen, was man bewegen kann. Wir sind dreigleisig gefahren, wenn man so will: einerseits die juristische Schiene über eine Verfassungsbeschwerde und über die Verwaltungsgerichte. Die zweite Schiene war die politische Schiene – Einfluss zu nehmen auf Politiker und da Überzeugungsarbeit zu leisten. Und die dritte Schiene war, die Öffentlichkeit zu informieren, Journalisten zu informieren, dass einfach das Wissen über Cannabis erweitert wird. In allen drei Bereichen hat sich einiges getan – das Wissen über Cannabis in der Öffentlichkeit ist gewachsen, die Politik ist zugänglicher geworden, und es gab sehr erfolgreiche juristische Verfahren.
MED: Eines dieser erfolgreichen juristischen Verfahren war ja die Grundlage der Ausnahmegenehmigungen.
FG: Genau, am 19. Mai 2005, ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit hingewiesen hat, Artikel 2 des Grundgesetzes, und darauf, dass diese körperliche Unversehrtheit durch den Staat nicht nur verletzt werden kann, wenn man aktiv einen Schaden zufügt, sondern auch, wenn man verhindert, dass Patienten ihre Leiden selbst lindern können. Das hat dann dazu geführt, dass der Staat Ausnahmegenehmigungen erteilen muss, wenn es notwendig ist.
MED: Die Ausnahmegenehmigung ist ja jetzt mittlerweile ungültig. Wie läuft der Prozess einer Cannabisverschreibung heute ab?
FG: Das Gesetz wurde ja am 19. Januar dieses Jahres im Bundestag verabschiedet und alle Parteien haben sich zu diesem Gesetz beglückwünscht, und wir konnten auch sehr positiv in die Zukunft schauen. Die wesentlichen Punkte des Gesetzes sind, dass Cannabisblüten verschreibungsfähig geworden sind, das heißt, man braucht keine Ausnahmegenehmigung mehr zu beantragen, und zum anderen müssen die Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen die Kosten übernehmen. Und zwar dann, wenn der Patient erstens austherapiert ist oder wenn der Arzt sagt, dass nach ärztlicher Einschätzung der Patient weitgehend ausbehandelt ist, und zweitens eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt; drittens muss eine gewisse Aussicht auf Linderung der Symptome bestehen. Die Änderungen gelten auch für andere cannabisbasierte Medikamente wie Sativex und Dronabinol. Zudem wurde in Deutschland nun eine Cannabisagentur eingerichtet, die einen in Deutschland stattfindenden Cannabisanbau überwachen und organisieren soll.
MED: Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit den Krankenkassen? Sie erwähnten vorhin, dass die Krankenkassen unter bestimmten Voraussetzungen angehalten sind, die Kosten für eine Cannabistherapie zu übernehmen?
FG: Die Idee des Gesetzes war ja unter anderem die, dass Patienten, die eine Ausnahmegenehmigung bekommen haben von der Bundesopiumstelle, nicht gezwungen sind Cannabis selbst anzubauen. Denn das hat ja das Bundesverwaltungsgericht 2016 entschieden, dass unter bestimmten Voraussetzungen und wenn sich die Patienten die Blüten aus der Apotheke nicht leisten können, dass dann eine Erlaubnis zum Eigenanbau infrage kommt.
MED: Also Stichwort „Eigenanbauverhinderungsgesetz“?
FG: Genau, jetzt war es aber so, dass die Krankenkassen ehemaligen Erlaubnisinhabern häufig die Kosten nicht erstatteten, dass die Krankenkassen das Gesetz also strenger auslegten, als die Politik das eigentlich wollte. Die Krankenkassen gehen doch sehr rigide mit der Frage der Austherapiertheit oder mit der Beurteilung einer schweren Erkrankung um.
MED: Da wird vermutlich noch etwas „Einspielzeit“ vergehen müssen, Klagen inklusive.
FG: Ja, da gibt es Prozesse vor den Sozialgerichten, um diese Sache zu klären. Bisher laufen diese überwiegend zugunsten der Patienten ab. Es gibt aber auch schon Verfahren, die nicht gut verlaufen sind.
MED: Sie haben in Ihrer Praxis mit den verschiedensten Krankheitsbildern zu tun. Welche Indikationen sprechen besonders gut auf Cannabinoide an, wo sind diese vielleicht kontraindiziert?
FG: Fangen wir mit dem kleineren Begriff an, mit den Kontraindikationen. Vorsichtig muss man sein bei psychotischen Erkrankungen, weil der Verlauf einer Psychose ungünstig beeinflusst werden kann. Ebenso bei Herzkreislauferkrankungen, weil Cannabis den Blutdruck verändern kann. Und bei Kindern und Jugendlichen muss man auch sehr zurückhaltend sein. Das sind alles keine absoluten Kontraindikationen, aber man ist hier vorsichtig. Generell muss man hier gucken, ob der Nutzen überwiegt. Wo Cannabis gut einsetzbar ist: Da gibt es vor allem fünf Bereiche, das eine sind chronische Schmerzen unterschiedlicher Art, also Phantomschmerzen, Rückenschmerzen, Migräne, also alles Querbeet – es hilft nicht immer, einem Teil der Patienten hilft es ganz gut, einem Teil gar nicht. Der zweite große Bereich sind neurologische Erkrankungen, also zum Beispiel Spastik bei MS, Tourettesyndrom oder Epilepsie. Der dritte große Bereich sind chronisch entzündliche Erkrankungen, also Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Morbus Bechterew, Rheuma und so weiter. Der vierte große Bereich betrifft Appetitlosigkeit, Übelkeit, HIV und Aids sowie Chemotherapie bei Krebs. Und der fünfte große Bereich sind psychiatrische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, ADHS und so weiter. Es gibt noch eine Reihe anderer Indikationen, aber das sind die wichtigsten.
MED: Welche Form der Applikation ist am wirksamsten? Oder ist die Form der Einnahme von der Krankheit abhängig?
FG: Naja, es gibt da auch einfach Vorlieben. Viele Patienten inhalieren am liebsten, andere trinken lieber einen Tee oder nehmen es anders oral ein. Es ist nicht unbedingt von der Indikation abhängig. Es gibt natürlich bestimmte Indikationen, wo bestimmte Einnahmeformen günstiger sind. Wenn man es zum Beispiel bei Migräne einnimmt, dann nehmen es viele oral zur Prophylaxe ein. Und wenn sie merken, es gibt einen Anfall, dann kann es besser sein, schnell zu inhalieren, damit es gleich wirkt. Meistens spielt die Indikation nicht so eine große Rolle, aber wenn bestimmte akute Symptome vorliegen, etwa plötzlich stark einschießende Schmerzen, dann ist die Inhalation besser. Wer eine lange Wirkung haben will, zum Beispiel über Nacht, dann ist oft eine orale Einnahme besser, aber grundsätzlich ist es meist eine Frage der Vorliebe.
MED: Sie haben in letzter Zeit einige Bücher veröffentlicht bzw. an diesen mitgewirkt. In dem neuesten Buch „Cannabis gegen Krebs: Der Stand der Wissenschaft und praktische Folgerungen für die Therapie“ beleuchten Sie aktuelle Forschungsergebnisse. Wird es Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren standardisierte Therapeutika auf Cannabinoidbasis für die Onkologie geben?
FG: Ich denke, es wird keine spezifischen Medikamente für die Onkologie geben. Medikamente, die es schon gibt, werden dann auch onkologisch eingesetzt werden. Das ist ja zum Teil schon der Fall, jetzt natürlich eher zur Symptomlinderung, zur Steigerung des Appetits, zur Hemmung der Übelkeit, zur Linderung von Schmerzen. Die Forschung wird in den nächsten Jahren zeigen, wie weit dann auch Cannabinoide eingesetzt werden können, um Krebs wirksam zu behandeln. Der Erkenntnisstand ist sehr vorläufig, das heißt, man kann diese Medikamente anwenden, zusätzlich zur Standardtherapie, aber wie gesagt, die Ergebnisse sind vorläufiger Natur.
MED: Was raten Sie Patienten, die sich selbst mit Cannabisextrakten aufgrund einer onkologischen Erkrankung behandeln?
FG: Ich selbst behandle Patienten, die an Krebserkrankungen leiden, mit Cannabisprodukten. Dabei empfehle ich hohe CBD-Dosen von bis zu 500 mg täglich, eventuell auch mehr. Und dazu THC in Form von Cannabisblüten in möglichst hohen Dosen. Ich betone, dass es nicht auf die Konzentration eines CBD-Extraktes oder eines THC-Präparates ankommt, sondern auf die absolute Menge.
Manchmal erläutere ich das am Beispiel von Alkohol: Man wird mit 1 l Bier mit 5 Prozent Alkohol genauso betrunken wie mit 100 ml Whisky mit 50 Prozent Alkohol, da in beiden Fällen 50 g Alkohol aufgenommen werden. Genauso ist es mit THC und CBD. Es kommt auf die Menge an und nicht auf die Konzentration oder die Art der Einnahme. Die Krebszelle weiß nicht, aus welchem Produkt das THC und das CBD kommen oder wie THC und CBD eingenommen wurden.
MED: Worin sehen Sie die Problematik mit Rick Simpson und dessen Heilversprechen?
FG: Rick Simpson stellt unbewiesene Behauptungen auf, die der Realität nicht standhalten. Das Hauptproblem besteht darin, dass er sagt, jeder Krebs könne erfolgreich mit Cannabisöl geheilt werden, und dass er empfiehlt, möglicherweise wirksame Standardtherapien nicht durchzuführen. Ich gehe davon aus, dass aufgrund seiner Empfehlungen mehr Menschen an Krebs gestorben sind als geheilt wurden. Ich halte sein Verhalten für unverantwortlich. Er schadet den Menschen und damit der Sache Cannabis als Medizin.